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Olivia: Manchmal kommt das Glück von ganz allein (German Edition)

Olivia: Manchmal kommt das Glück von ganz allein (German Edition)

Titel: Olivia: Manchmal kommt das Glück von ganz allein (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jowi Schmitz
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beruhigend – nach einer Weile jedenfalls, wenn man weiß, welche Geräusche zu einem Boot gehören.
    Meine Zehen drehten sich immerzu im Kreis, und in den Kreisen, die ich an die Decke malte, sah ich das Gesicht meiner Mutter.
    Vor allem ihr Lächeln. Allmählich gewöhnte ich mich daran. Ich wagte sogar, an den Ort zu denken, an dem sich das Lächeln in meinem Kopf festgebrannt hat.
    Zuerst hatten wir sie immer in ihrem Krankenhauszimmer besucht, in dem lauter Bilder von mir hingen – und ganz viele Origami-Vögel, weil meine Oma sagte, sie brächten Glück. Ich faltete einen Origami-Vogel, und meine Eltern redeten über den Friseursalon, den mein Vater mieten wollte. Und darüber, dass meine Mutter am nächsten Tag umziehen würde. Beide taten so, als wäre der Umzug nicht weiter schlimm. Als wäre es sogar schön, dass sie jetzt, nach der langen Zeit in diesem hektischen Krankenhaus, in ein ruhiges Hospiz kam.
    Doch ich wusste, dass man dort nur hinging, wenn einem im Krankenhaus keiner mehr helfen konnte. »Das stimmt«, sagte mein Vater, »aber es heißt nicht, dass sie deswegen gleich stirbt. Ich habe sogar von einer Frau gelesen, die schon fast tot war und dort dann trotzdem wie neugeboren weiterlebte.« Damals las er viele solcher Geschichten. Auch über Kinder, die mit Katzenaugen geboren werden, und darüber, dass Kopfschmerzen nach einer durchzechten Nacht vielleicht gar nicht vom Alkohol kommen, sondern von Aliens, das sei gut möglich.
    »Du darfst nicht alles glauben, was er dir erzählt«, hat meine Mutter mir zugeflüstert. Und das tat ich auch nicht. Aber manches eben doch ein bisschen.
    Beim Falten des Origami-Vogels dachte ich: Du musst Erinnerungen sammeln. Nicht vergessen. Bloß nichts mehr vergessen.
    Mein Vater hatte schon gesagt, dass er »danach« nicht in Friesland bleiben wolle. Er brauchte drei Anläufe, um das herauszubringen, weil er so schrecklich schluchzen musste. Die Schluchzer klangen schlimmer als seine Worte. Ich sah, wie meine Mutter ihm über die Hand strich: Das mochte er.
    »Du musst so ein altmodisches Friseurzeichen über den Eingang hängen«, sagte meine Mutter und lächelte ihn an.
    »Einen Barbierstab.« Er nickte und wollte mir erklären, wie so ein Stab aussah. Als wüsste ich das nicht selbst: eine rot-weiß-blaue Zuckerstange.
    »Und du brauchst Ledersessel, die knarzend rauf- und runterfahren und sich nach hinten kippen lassen.«
    »Zahnarztstühle!«, rief ich. Sie warfen mir beide kurz einen Blick zu.
    Dann sah meine Mutter wieder meinen Vater an. »Ich mag deine Hände«, sagte sie ohne jeden Zusammenhang. »Du hättest Pianist werden sollen.«
    Mein Vater nickte. Ich sah, dass er keinen Ton herausbekam.
    »Bestimmt wird es wunderschön.« Sie strich über die behaarten Pianistenfinger meines Vaters. Schluchz, machte er.
    Und da wurde ich plötzlich wütend, stinkwütend. »Das wirst du überhaupt nicht miterleben, verdammt noch mal!«, schrie ich meine Mutter an. »Dann bist du längst tot!«
    »Vielleicht doch lieber keine Zahnarztstühle«, sagte mein Vater schnell.
    Aber da war ich schon weggerannt.
    Am nächsten Tag gingen wir hin, um es wiedergutzumachen und wegen des Umzugs. Meine Mutter war gar nicht sauer auf mich, sie lächelte und gab mir einen Kuss. Extra für mich hatte sie ihr rotes Kleid angezogen. Weil es mein Geburtstag war.
    Ihr Koffer stand im Zimmer, eine dicke Kerze daneben. Der Verleger meiner Mutter hatte sie ihr geschenkt. Ein einziges Mal hatte die Kerze gebrannt, dann war der Docht im Wachs ertrunken.
    »Die ist doch zu nichts gut«, sagte ich.
    »Ich finde es ein nettes Geschenk«, antwortete sie.
    Wir fuhren im Taxi zum Hospiz. Ich hielt die Kerze auf dem Schoß. Es war merkwürdig, meine Mutter in ihrem roten Kleid aufrecht im Taxi sitzen zu sehen. Noch merkwürdiger war, dass sie gar nicht krank aussah. Ein bisschen müde vielleicht, aber nicht wie jemand, der gerade stirbt.
    Es musste ein Irrtum sein. Die ganze Zeit war das falsche Blut untersucht, waren CTs vom falschen Patienten gemacht worden. Meine Mutter war gar nicht krank. Wir nahmen sie einfach mit nach Hause. Wenn ich fest genug daran glaubte, würde es von selbst wahr werden. Genau wie beim Unterwasserschwimmen: Man musste glauben, dass man es konnte. Schließlich hatte ich es auch geschafft, unter Wasser zu schwimmen. Dann würde ich es doch wohl auch hinkriegen, dass meine Mutter weiterlebte?
    Ich würde meine Mutter an der Hand nehmen, wenn wir aus dem Taxi stiegen.

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