Oma dreht auf
wie Windstärke zwölf anhörte, aber das wäre bei einem echten Sturm ja auch nicht anders gewesen.
Voller Tatendrang zog sie sich Jacke und Schuhe an und ging zu dem Schuppen hinter dem Haus, den sie sonst eher mied. Sie hasste den Ölgeruch und die rutschige Schmiere auf dem Boden, Ocke sammelte und reparierte hier seine alten Mofas. Eine schwarz lackierte Maschine mit Rostflecken stand aufgebockt auf einem Ständer, der Schlüssel steckte im Schloss. Das Gefährt sah seltsam aus, denn der Motor lag vorne, quer vor dem Lenker.
«Vélosolex», entzifferte Imke den abblätternden Schriftzug.
Sie zögerte.
Seit Jahren war sie nicht mehr Auto gefahren, weil sie sich zu schwach fühlte – und nun sollte sie sich auf ein Zweirad setzen? Andererseits waren ihre Mitbewohner gerade nicht da und die Wirkung der Tabletten auf dem Höhepunkt, also jetzt oder nie! Sie drehte den Schlüssel um und stellte sich mit beiden Füßen auf die rechte Pedale. Erstaunlicherweise sprang das Ding beim ersten Mal an und stieß giftige blaue Dampfwolken aus. Imke setzte sich auf das Mofa, jetzt musste es nur noch vom Ständer.
Aber das schaffte sie nicht, dazu fehlte ihr einfach die Kraft.
Das war es wohl.
Trotzdem, noch ein Versuch.
Imke verlor das Gleichgewicht, und wie von allein rutschte das Mofa vom Ständer und fuhr mit ihr aus dem Schuppen. Hätte sie nicht das blanke Entsetzen gepackt, wäre das eine lustige Slapstick-Einlage gewesen.
Meine Oma fährt im Hühnerstall Motorrad.
Zum Glück fand sie nach ein paar Metern das Gleichgewicht wieder und schnurrte jetzt über eine schmale Nebenstraße zwischen üppig wuchernden Maisfeldern Richtung Marsch.
Der Himmel war immer noch bedeckt, aber es regnete nicht. Dieses Wetter war ein echtes Geschenk. Und auch die Strecke war dankbar, es ging meistens stur geradeaus. Über ihr brummte ein kleines Flugzeug Richtung Sylt. Imke klammerte sich krampfhaft an den Gasgriff und durchfuhr eine Schilfallee mit schlanken, hellen Halmen, die im Wind raschelten und bald von einer Hecke abgelöst wurden, in der glutrote Hagebutten leuchteten. Dann schoss sie auf eine kilometerweite freie Fläche mit sattgrünen Kuh- und Pferdeweiden zu. Sie ließ Oldsum rechts liegen und preschte auf der geraden Straße voran. Kurz vor Midlum passierte sie die Brücke über den kleinen Kanal, zehn Minuten später stand sie vor dem Friesenhaus, in dem Gerald Brockstedt wohnte. Ihr Handgelenk schmerzte noch etwas vom Gasgriff, aber sie hatte es geschafft!
Das Haus war umgeben von einem Rosengarten und einem perfekt gestutzten Rasen, der fast so glatt wie ein Teppich aussah. Vor der grün lackierten Eingangstür kniete eine Frau mit dunklen Haaren und einem ausgebleichten lila T-Shirt, Geralds Frau Wiebke. Sie rupfte Moos und Unkraut zwischen den Pflastersteinen auf dem Bürgersteig heraus, was genau genommen Aufgabe der Gemeinde war.
Imke atmete tief durch: Jetzt ging es los! Den Motor stellte sie lieber nicht ab, sonst würde sie das Mofa nie wieder in Gang bekommen.
«Moin, Wiebke. Hört nie auf, die Sauarbeit, was?»
Wiebke kam hoch und stützte dabei ihren Rücken, wie es Schwangere tun.
«Moin, Imke.»
«Ist Gerald da?»
«Der ist angeln im Hafen – eilt es?»
Imke winkte lässig ab: «Ach was.»
Pech gehabt, jetzt musste sie noch weiter fahren. Sie spürte, dass ihre Kräfte zu schwinden begannen.
«Lass dich bloß nicht von meinem Mann erwischen», sagte Wiebke.
«Wieso?»
«Ohne Helm und ohne Kennzeichen?»
«Och …»
Imke verabschiedete sich und tuckerte auf die Midlumer Dorfstraße. Inzwischen war es unglaublich schwül, es ging bestimmt auf dreißig Grad zu. Schweißtropfen liefen ihr in die Augen, aber sie traute sich nicht, sie abzuwischen, denn dafür hätte sie kurz den Lenker loslassen müssen. Als sie auf einem Verkehrsschild die Warnung vor spielenden Kindern sah, betete sie, dass ihr keines in den Weg lief, denn Ausweichmanöver befanden sich nicht in ihrem Repertoire. Der Himmel verdüsterte sich zusehends, sie musste sich beeilen.
Im Sportboothafen angekommen, sah sie Hunderte von Segelmasten steil in den Himmel ragen, dahinter legten die schweren, großen Fähren aus Dagebüll und Amrum an. Gegenüber befanden sich das Gebäude der W.D.R.-Reederei mit seiner Glasfassade und einige Buden, an denen Fischbrötchen und Kuscheltiere verkauft wurden.
Jetzt entdeckte Imke Brockstedt. Er saß mit seiner Angel in der Hand auf der Kaimauer und starrte aufs Wasser. Seltsam, dass er
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