Oma ihr klein Häuschen
eine Gruppe dunkel gekleideter Gestalten räkelt. Was ist das? Ich schaue genauer hin und erkenne ein paar Seehunde mit großen dunklen Augen, die das letzte Licht des Tages genießen. Dasses die außerhalb von Zoos noch gibt, hatte ich komplett vergessen. Mir sind diese Tiere ein Rätsel, unter 17 Grad zu baden ist für mich einfach unvorstellbar.
Jetzt wird erst einmal Omas Geburtstag gefeiert und dann am Strand abgehangen. Danach regelt sich alles wie von selbst.
Die Autofähre wird immer wieder angehoben und fallen gelassen, wie ein defekter Lift, der hilflos zwischen zwei Etagen hin- und herfährt. Ich war noch nie seekrank, aber so langsam wird mir leicht mulmig zumute. Komischerweise genieße ich selbst dieses Gefühl, vielleicht weil es so komplett anders ist als alles andere an diesem Tag. Nach einer Dreiviertelstunde legen wir in Wyk an. Die Wogen schlagen heftig gegen die Mauer. Man hört Metall quietschen, es riecht ein bisschen nach Dieselruß. In einem verlorenen, kleinen Haufen Fußgänger eile ich von der Fähre. Die ersten Schritte auf dem Festland fühlen sich immer etwas seltsam an, als müsste man das Gehen neu lernen. Ja, ich bin eindeutig in einer anderen Welt angekommen.
Die Insel wirkt um diese Zeit fast ausgestorben, der Asphalt glänzt feucht im Licht der wenigen Straßenlampen. Ich steige in einen alten Mercedes, das einzige Taxi, das hinter dem kleinen Deich am Kai wartet. Der Fahrer hat sich als friesischer Fischer verkleidet. Er trägt ein blaues, grobes Hemd mit feinen hellen Streifen, eine Prinz-Heinrich-Mütze und hat einen weißen Vollbart. Allein die Ray-Ban-Sonnenbrille auf der Mütze passt nicht ins Klischee. Ich bin so erschöpft, dass ich im Wagen sofort einnicke, werde aber nach wenigen Minuten schon wieder geweckt.
Das Taxi steht mit laufendem Motor vor Omas kleinem Hexenhaus in Nieblum. Offensichtlich wird es gerade renoviert, ein Teil des Reetdaches ist mit einer giftgrünen Kunststoffplaneabgedeckt. Hinter der auswuchernden Hecke steht das Gras hüfthoch, der Vorgarten würde wohl jeden Vorsitzenden eines Kleingartenvereins in den Herztod treiben, das gefällt mir. Ich drücke dem Taxifahrer sein Geld in die Hand und steige mit meinem Gepäck aus.
Als ich klein war, waren meine Eltern und ich häufig auf der Insel zu Besuch, und immer haben wir hier übernachtet. Unten gibt es zwei kleine Zimmer und eine enge Küche, oben befindet sich das Bad. Ich kenne die besten Nischen und Abseiten fürs Versteckspielen und erinnere mich genau, welche Bodendielen nach verschüttetem Bootslack riechen. Herrlich: Die nächsten Tage werde ich hier wohnen wie in einem Palast, ganz alleine. Ich werde im Garten in der Sonne liegen und mich einfach tot stellen – falls ich nicht gerade ein Bad in der Nordsee nehme.
In freudiger Erwartung hole ich den Haustürschlüssel hervor, den mir meine Mutter mitgegeben hat: Er geht keinen Millimeter hinein.
Bin ich zu blöd? Das gibt es doch nicht!
Ich probiere es noch einmal, wie ein Volltrottel stochere ich im Dunkeln herum, vergeblich. Jemand scheint das Schloss ausgetauscht zu haben.
Frechheit!
Jetzt fängt es auch noch an zu regnen.
Aber ich habe Glück, das Fenster neben dem Eingang ist nur angelehnt. Vorsichtig ziehe ich mich an der Mauer hoch, schiebe es auf und springe vom Fensterbrett ins Dunkel. In dem leeren Zimmer riecht es nach Schimmel, unterlegt mit einem Herrenduft, der vor einiger Zeit mal sehr angesagt war, Cool Water von Davidoff. Mit ausgestreckten Armen taste ich mich zum Lichtschalter vor. Eine Diele neben mir knarrt laut, was in einem alten Gemäuer nicht ungewöhnlichist. Plötzlich krallen sich wie aus dem Nichts zwei knochige Finger von hinten in meinen Hals.
«Das hast dir so gedacht, was?», keucht eine tiefe Männerstimme in mein Ohr. Der volltönende Bass klingt tief vertraut. Wie der meines Onkels, dessen wunderbare Geschichten aus meiner Kindheit ganz tief in meinem Gedächtnis gespeichert sind.
«Cord?»
Die Finger lockern sich: «Sönke?»
Ein paar Schritte, dann geht das Licht in Form einer nackten Glühbirne an, die von der Decke baumelt. Ich drehe mich um, und fast wäre mir eine unangemessene Frage herausgerutscht:
Wo sind deine Haare, Cord?
Mein Onkel hat plötzlich eine Glatze! Wie kann das sein? Gut, er müsste inzwischen über vierzig sein, und obwohl wir nur sieben oder acht Jahre auseinander sind, kam er mir immer schon viel älter vor. Zur Beerdigung von Opa ist er nicht gekommen. Wir haben
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