Oma ihr klein Häuschen
Stimmen eines klassischen Chores besetzt. Auch Maria habe ich bestimmt zehn Jahre nicht gesehen, bei Opas Beerdigung hatte sie Dienst in Neumünster.
«Verpiss dich! Das ist unser Haus!», schreit Cord zurück und grinst mich an.
«Wenigstens guten Tag sagen sollten wir», schlage ich vor. Cord wirft mir wortlos seinen Schlüssel zu, ich schalte das Licht im Flur an, gehe zur Haustür und schließe auf.
«Ganz langsam», kommt es von draußen, «ich will beide Hände sehen!»
Ich drücke behutsam die Klinke nach unten und zwinkere Cord zu. Dann reiße ich die Tür mit einem Ruck auf und rufe: «Überraschung!»
Das kostet mich fast das Leben.
Denn meine Cousine Maria meint es ernst.
Sie steht breitbeinig mit durchgedrückten Armen vor mir und hält mit beiden Händen die Pistole auf mich gerichtet, die Finger befinden sich am Abzug. Dass sie fast so groß ist wie ich, hatte ich beinahe vergessen. Ihre haselnussbraunen Augen weiten sich beträchtlich, als sie mich erkennt: «Sönke?»
So stehen wir ein paar Sekunden und blicken uns an. Was für eine Erscheinung! Es ist das erste Mal, dass ich sie in ihrer dunkelblauen Polizistinnenuniform sehe. Von ihrem strengen Gesichtsausdruck mal abgesehen, sieht sie klasse aus. Unter der Uniformmütze gucken ihre vollen, braunenHaare hervor, fast meine Farbe. Die Haut über den hoch liegenden Wangenknochen spannt nicht mehr so wie früher, sondern ist weicher geworden, was ihr gut steht. Die lange, schmale Nase ist jetzt ein reizvoller Kontrast dazu, und ihre vollen Lippen sehe ich das erste Mal leicht geschminkt. Ihr Gesicht ist allerdings überraschend blass für diesen heißen Sommer, sie war wohl nicht viel draußen. Erst jetzt bemerke ich den angespannten Polizisten jenseits der sechzig mit klassischem Schnauzer, der neben ihr steht und nervös auf seiner Unterlippe kaut. Er hat ebenfalls eine Pistole gezückt.
Maria hält ihre Waffe immer noch auf mich gerichtet.
«Hallo, Maria.»
«Uns, äh, wurde ein Einbruch gemeldet …», stammelt sie.
«Kennst du den?», fragt ihr Kollege ungläubig.
«Mmh.»
Sie schaut mich prüfend an, als müsste sie mein Gesicht noch einmal mit der Verbrecherdatei abgleichen, dann sichert sie ihre Pistole.
«Darf ich dich vielleicht mal umarmen?», lächle ich.
Maria hebt nur andeutungsweise die Hände, als ich sie kurz an mich drücke. Dabei meine ich den Anflug eines Lächelns in ihren Mundwinkeln zu erkennen.
«Na, dann ist die Familie ja glücklich vereint», gluckst Cord hämisch von hinten.
«Moin Cord», sagt Maria, aber da ist der schon wieder weg.
«Na, wir sehen uns dann ja morgen bei Oma», verabschiedet sich Maria trocken, dreht sich um und geht mit ihrem Kollegen zurück zum Dienst-Passat. Ihr leichter Gang passt so gar nicht zu ihrem düsteren Gesichtsausdruck. Obwohl sie langsam geht, berühren ihre Füße den Boden nicht länger als unbedingt notwendig. Sie wirkt wie eine Langstreckenläuferin, immer zum Sprint bereit.
Eins ist klar: Dieser Frau verdanke ich mein gutes Ansehen bei den Jungs in meiner Schulklasse. Als Fußballer war ich eine Niete, Maria hingegen brillant. Sie hat mir damals beigebracht, wie man eine Flanke genau platziert, einen Angreifer austrickst und einen Ball aus der Luft stoppt. Später stellte sich mir allerdings das Riesenproblem, wie man an ein wunderschönes Mädchen rankommt, das eigentlich lieber ein Junge geworden wäre.
Seit Beginn meiner Geschlechtsreife war Maria meine unerreichbare Traumfrau. Unerreichbar nicht, weil sie meine Cousine war – mein Onkel Arne hatte sie im Alter von drei Jahren adoptiert –, sondern weil sie so verdammt schwer einzuschätzen war. Sie lächelte fast nie und trug immer schlechte Laune zur Schau, selbst in Glücksmomenten. Selten konnte sie sagen, dass etwas gut war, für sie war es höchstens «nicht schlecht». Daher sah ich es als die größte Herausforderung an, sie zum Lachen zu bringen, und wenn es mir gelang, war das für mich wie ein praller Sommertag. Früher sind wir tagelang gemeinsam über die Föhrer Marschwiesen gelaufen, wo sie mir zeigte, wie man mit dem über zwei Meter langen
Klopperstook
Gräben überspringt und wann man bei Ebbe ins Watt darf. Das waren jene seltenen Ausnahmen, in denen sie ausgelassen juchzte und sang, während der Westwind uns durchs Haar pfiff, und ich fühlte mich wie im Himmel. Blöderweise glaubte ich ernsthaft, dass sie diese Seite nur mir zeigte. Im Grunde war ich jedes Mal, wenn ich mit meinen
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