Omertà - Die ganze Geschichte der Mafia: Camorra, Cosa Nostra und ´Ndrangheta (German Edition)
Sangiorgi formell um die Erlaubnis, von seinem Amt als Polizeipräsident in Palermo zurücktreten zu dürfen; er zeigte Krankheitssymptome, den Beginn einer schleichenden Lähmung. Sein Leben als Vollzugsbeamter – 48 Dienstjahre, davon 18 als Polizeichef – hatte noch vor der Einigung Italiens begonnen. Doch die Zeit hatte ihn nicht zimperlicher gemacht: Er forderte unverblümt eine gesonderte Pension sowie den Ehrentitel Präfekt und schloss das Schreiben auf typisch patriotische Weise:
»Ich habe meine Laufbahn während des italienischen Unabhängigkeitskrieges begonnen, als in Norditalien der Ruf erschallte: ›Lang lebe König Vittorio Emanuele II .!‹ Nun beende ich sie mit einem anderen Ruf auf den Lippen und im Herzen: ›Lang lebe unser König Vittorio Emanuele III .! Lang lebe das Haus Savoyen!‹«
Sangiorgi trat im Mai 1907 in den Ruhestand, mit seinem Ehrentitel zwar, doch ohne seine Pensionszulage. Die schleichende Lähmung, die seinen Rücktritt beschleunigt hatte, beschleunigte auch sein Ableben im November 1908 . Die Presse in Neapel und Palermo ehrte das Andenken ihres Präfekten, indem sie den Lesern seine stümperhafte Handhabung des Droschkenkutscherstreiks im Jahre 1893 in Erinnerung rief, die zu anarchischen Zuständen in den Gassen geführt hatte.
Mit Sangiorgis Tod ging ein einzigartiger Wissensschatz über die frühen Jahre der Mafia verloren: Das außerordentlich wichtige Dossier über die Mafia, das Sangiorgi für Premierminister Pelloux verfasst hatte, sollte bis in die 1980 er Jahre im Archiv verborgen bleiben. Im Wesentlichen würden die Kenntnisse, die er sich so mühsam erarbeitet hatte, noch lange nach seinem Tod Gültigkeit haben, denn die sizilianische Mafia veränderte sich in all den Jahren bemerkenswert wenig. Dennoch hätten Raffinesse und Rücksichtslosigkeit, mit denen die Organisation sich dem Wandel der Zeiten anpasste, sogar Sangiorgi erstaunt.
Sangiorgi hatte sich in Palermo an die Regeln gehalten; er hatte einen sauberen, »offenen Kampf« gegen die Mafia geführt und war letztendlich gescheitert. Er starb in der Heimatstadt seiner Frau, in Neapel, wo die Carabinieri bereits einen heimtückischen und äußerst schmutzigen Feldzug gegen die Camorra begonnen hatten – er sollte siegreich enden.
Die »hohe« Camorra
Während die ökonomischen und politischen Krisen der 1890 er Jahre allmählich verebbten, schlugen Korruption und organisiertes Verbrechen in Neapel wie in Palermo hohe Wellen. 1899 begann eine neue sozialistische Zeitung,
La Propaganda
, eine Kampagne gegen Günstlingswirtschaft und Gangstertum. Manch edel gesinnter Politiker der Rechten schloss sich ihr an. Die Kampagne war so erfolgreich, dass in der Vicaria – dem Wahlkreis in Neapel mit der höchsten Bevölkerungsdichte und zudem Wiege der Camorra – ein sozialistischer Abgeordneter gewählt wurde.
Die Zeitung richtete ihr Gift hauptsächlich gegen den parlamentarischen Abgeordneten Alberto Casale, einen einflussreichen Strippenzieher in der Kommunalverwaltung mit ausgezeichneten Kontakten zur neapolitanischen Unterwelt. Wir sind Casale bereits flüchtig begegnet: Im Jahr 1893 nutzte er seinen Einfluss auf die Ehrenwerte Gesellschaft, um den von der Mafia befeuerten Streik der Droschkenkutscher zu beenden. Casale reagierte auf die Angriffe der Zeitung
La Propaganda
, indem er sie wegen Verleumdung verklagte, und es folgte ein Gerichtsverfahren.
Sein Ausgang war eine Katastrophe für ein betrügerisches System, das Politiker, Bürokraten, Geschäftsleute und Journalisten miteinander verband.
La Propaganda
verteidigte sich erfolgreich gegen die Verleumdungsklage, indem sie bewies, dass sich Casale, abgesehen von anderen korrupten Machenschaften, für seine Rolle im Droschkenkutscherstreik von einer belgischen Straßenbahngesellschaft hatte schmieren lassen.
Die Schockwellen von Casales öffentlicher Demütigung drangen bis nach Rom. Casale trat zurück, der neapolitanische Stadtrat wurde aufgelöst, und Senator Giuseppe Saredo, ein kauziger alter Juraprofessor aus Ligurien, leitete eine offizielle Untersuchung der korrupten Machenschaften im Stadtrat. Saredos Ermittlungen enthüllten einmal mehr die »laxe Gesellschaft« und zeichneten eines der sachlichsten Porträts von der politischen und bürokratischen Nachlässigkeit im Land, das die italienische Geschichte aufzuweisen hat.
Die düsteren Gänge des Rathauses von Neapel zu beleuchten, war kein leichtes Unterfangen. Senator Saredo
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