Omertà - Die ganze Geschichte der Mafia: Camorra, Cosa Nostra und ´Ndrangheta (German Edition)
Konservative, denen Leopoldos dringendes Bedürfnis nach Gerechtigkeit fehlte, überschritten nur sehr ungern die politische Kluft. Die Barrikaden von 1898 mochten beseitigt worden sein, doch dem Italien des frühen 20 . Jahrhunderts drohten unentwegt innere Konflikte. Die Anhänger der Rechten wie auch jene der extremen Linken betrachteten den italienischen Staat als ein baufälliges Gebäude, das nur zu retten war, indem es von Grund auf erneuert wurde. Beide Seiten hielten es für naiv, allzu viel Hoffnung in solch einen Staat zu setzen, wenn es galt, dem Recht zum Durchbruch zu verhelfen. Sobald daher Mafiathemen im Spiel waren im politischen Machtkampf, triumphierte die Ideologie über Recht und Gesetz.
Und Italiens berüchtigte regionale Streitigkeiten triumphierten oftmals über beide. Sogar auflagenstarke Zeitungen wie der Mailänder
Corriere della Sera
richteten sich hauptsächlich an eine lokale Leserschaft. Noch gab es keine »nationale« öffentliche Meinung. Vorurteile waren weitverbreitet. In Mailand betrachteten einige Anführer der Sozialistischen Partei den gesamten Süden mit unverhohlener Abscheu als ein Land, das von aristokratischen Reaktionären, parlamentarischen Winkeladvokaten und degenerierten Bauerntrotteln bevölkert war. All das unergründliche Gerede über das »Mafiawesen«, das angeblich zum Naturell Siziliens gehörte, trug nur dazu bei, die Klischees zu erhärten.
Selbst die aufgeschlossensten Menschen in Nord- und Mittelitalien hatten nicht das Gefühl, dass die Mafia, so heimtückisch sie auch sein mochte, ihr Leben maßgeblich beeinflussen konnte. Natürlich waren sie entrüstet, als sie lasen, wie sizilianische Politiker sich mit Gaunern und Ganoven gemein machten. Doch fällt es schwer, sich die Entrüstung zu bewahren, wenn die Leute, die man selber wählt, ihrerseits mit verdächtigen sizilianischen Parlamentariern paktierten. Für die meisten Italiener außerhalb Süditaliens und Siziliens war die Mafia ein Phänomen jenseits ihrer Lebenswelt.
Der Lokalpatriotismus funktionierte in zwei Richtungen. Das Sprachrohr der Familie Florio,
L’Ora
, hielt während der gesamten Notarbartolo-Affäre eine stringente Linie ein: Die Mafia sei pure Fiktion und diene den Norditalienern als Vorwand, um Sizilien eins auszuwischen. Nicht zuletzt wegen des Einflusses der Zeitung
L’Ora
reagierte ein Großteil der Sizilianer im Sommer 1902 auf die Nachricht, Raffaele Palizzolo sei in Bologna für schuldig befunden worden, mit verletztem Regionalstolz. Der Schuldspruch im Mordfall Notarbartolo, klagten sie, sei nur ein weiterer Angriff des überheblichen Nordens gegen die Insel. Ein Pro-Sicilia-Ausschuss wurde eingerichtet, der rasch Mitglieder aus der Wählerschaft rekrutierte, die mit Hilfe des Florio-Vermögens und des Zugpferds Mafia entstanden war, der aber auch bei vielen Konservativen Anklang fand. Der Palizzolo-Fall wurde zur neuesten Ausrede, um die Entrüstung der Sizilianer anzukurbeln und der Regierung in Rom mehr Gelder und Gefälligkeiten abzunötigen. Als Nebenprodukt der Pro-Sicilia-Wendung in der Politik der Insel wurde Palizzolo von seinem Aussatz geheilt und zum Opfer norditalienischer Vorurteile stilisiert.
Der alte Regionalpatriotismus-Trick funktionierte. Mit fast hundertprozentiger Sicherheit hatte jemand in Rom heimlich mit den obersten Richtern gesprochen, und binnen sechs Monaten hob Italiens Oberster Gerichtshof aufgrund einer belanglosen und zudem höchst fraglichen Formalität den gesamten Bologna-Prozess kurzerhand auf.
Palizzolo und der Mafiakiller Giuseppe Fontana kamen vor ein drittes Schwurgericht, dieses Mal inmitten der prächtigen Renaissancekulisse von Florenz. Doch mittlerweile war die öffentliche Meinung erschöpft. Nicht einmal der Tod eines entscheidenden neuen Zeugen – man hatte ihn erhängt im Treppenhaus seines Florentiner Hotels aufgefunden – erregte noch großes Aufsehen.
Ermanno Sangiorgi, noch immer Polizeichef in Palermo, wiederholte in Florenz seine Aussage, obwohl kurz zuvor seine geliebte Tochter Italia nach langer Krankheit verstorben war. Zum Dank für seine Mühe wurde Sangiorgi sofort Ziel einer Schmutzkampagne der Mafia. Die Behauptungen – ein Knäuel aus Seemannsgarn über böse Schulden, Schlägermethoden der Polizei und Gefälligkeiten für Mafiosi – erschienen zunächst in einem langen Brief in der Zeitung der Florios,
L’Ora
. Die Story wurde schon bald von der
Tribuna Giudiziaria
in Neapel aufgegriffen, einem
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