Omertà - Die ganze Geschichte der Mafia: Camorra, Cosa Nostra und ´Ndrangheta (German Edition)
und sein Team mussten sämtliche Dokumente prüfen, um herauszufinden, warum das System so korrupt und ineffizient war. Doch die Unterlagen waren ein einziges Durcheinander gerade wegen all der Korruption und Ineffizienz. Die Bürokraten, eifrig darauf bedacht, ihre Spuren zu verwischen, hatten stapelweise offizielle Akten beiseitegeschafft. Von vielen der Schlüsselfiguren, die sie befragten, erhielten die Kommissare eine mürrische oder wütende Antwort.
Ungeachtet all der Hindernisse während der zehn Monate, in denen sie sich durch einen Sumpf aus Dokumenten und Zeugenaussagen gekämpft hatten, förderten Senator Saredo und sein Team jede Menge stichhaltige Beweise zutage. Posten im öffentlichen Dienst sollten neutral, nach Leistung vergeben werden. In Neapel waren die Vorschriften systematisch umgangen worden. Die Hälfte aller Angestellten im Stadtrat verfügte über keinerlei berufliche Qualifikationen. Nicht einmal der Hauptbuchhalter, dessen Aufgabe doch darin bestand, den Haushalt der Stadt zu erstellen, verfügte über spezielle Kenntnisse. Einige Angestellte der Stadtverwaltung bezogen zwei oder gar drei Gehälter. Mehrere bekannte Journalisten belegten Phantomposten im Stadtrat.
Der Grund, warum es in Neapel Verwaltungsstellen gab, war nicht etwa die Versorgung der Bürger mit Dienstleistungen – Feuerbekämpfung, Schulunterricht, Pflege der Gartenanlagen, Eintreiben von Steuern, Entsorgung des Mülls, Bau einer Kanalisation: Diese bestenfalls sekundären Belange wurden der Minderzahl von Trotteln überlassen, die sich tatsächlich bemüßigt fühlten, einer ehrlichen Tätigkeit nachzugehen. Nein, wenn in Neapel ein Arbeitsplatz existierte, hatte das nur einen Grund: Man konnte ihn an Leute vergeben, die die richtigen Freunde oder Verwandten hatten. Ein Posten im Stadtrat war eine Gefälligkeit, die gegen andere Gefälligkeiten getauscht wurde. Ein solches Amt zu ergattern, bedeutete die Macht, Gefälligkeiten zu verteilen oder zurückzuhalten, je nachdem: So konnte der Antrag auf ein Gewerbe sofort bearbeitet werden oder immer wieder ganz nach unten rutschen, wurde man lieber mit dieser als mit jener Straßenbahngesellschaft handelseinig. Weil die meisten Verwaltungsbeamten kein sonderliches Interesse daran hatten, sich für einen Unbekannten ins Zeug zu legen, entstand ein ganzer Parasitenschwarm von Vermittlern, die sogenannten
faccendieri
. Der Begriff bedeutete (und bedeutet noch immer) »Gauner«, »gerissener Geschäftemacher«. Die einzige Sachkenntnis, die diese
faccendieri
vorweisen konnten, war das Wissen, in welches Ohr sie hineinflüstern mussten. Gegen ein kleines Entgelt arrangierten sie für einen Bekannten, was immer er wollte – aus
Gefälligkeit
.
Ein System der Ämterpatronage machte dieses schmutzige Durcheinander möglich. Am Ende der Gefälligkeitsketten, die sich durch die Korridore des Rathauses in Neapel wanden, standen Politiker. Zornig bezeichnete Saredo in seinem Bericht die Männer, die dieses System bedienten, als »die hohe Camorra«:
»Die ursprüngliche,
niedere
Camorra herrschte in einer Zeit der Verworfenheit und Knechtschaft über den mittellosen Pöbel. Dann erhob sich eine
hohe
Camorra, die aus den gerissensten und unverfrorensten Mitgliedern der Mittelschicht bestand. Sie lebten vom Handel, von öffentlichen Bauaufträgen, politischen Übereinkünften und der Verwaltungsbürokratie. Diese hohe Camorra trifft Abkommen mit der niederen Camorra, macht Geschäfte mit ihr, tauscht Versprechen gegen Gefälligkeiten und Gefälligkeiten gegen Versprechen. Die hohe Camorra betrachtet die Staatsbürokratie gleichsam als ein Feld, das sie zu beackern und auszubeuten hat. Ihre Werkzeuge sind Schläue, Unverfrorenheit und Gewalt. Ihre Stärke bezieht sie von der Straße. Und sie gilt zu Recht als gefährlicher, weil sie ein Regime gegründet hat, das auf der schlimmsten Form von Despotismus basiert, der Schikane. Die hohe Camorra hat den freien Willen durch Abgaben ersetzt; sie hat Individualität und Freiheit für null und nichtig erklärt und hintergeht sowohl die Gesetze als auch das öffentliche Vertrauen.«
Als direktes Ergebnis der Untersuchung wurde ein Korruptionsverfahren eingeleitet, woraufhin zwölf Personen, darunter Alberto Casale und der ehemalige Bürgermeister von Neapel, für schuldig erklärt wurden.
Niedere
Camorra –
hohe
Camorra. Keine andere Formel für das neapolitanische Unbehagen konnte größere Schlagzeilen machen. Während der Begriff
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