Omertà - Die ganze Geschichte der Mafia: Camorra, Cosa Nostra und ´Ndrangheta (German Edition)
»Mafia« noch immer eine vage Vorstellung war, eingehüllt in eine Wolke aus kitschigen Klischees über die sizilianische Kultur, haftete dem Terminus »Camorra« der unverwechselbare Geruch der Kerker an, der Spelunken und Bordelle; er sprach eindeutig von primitiven Ritualen und Messerkämpfen, beschwor starre Bilder von gewaltbereiten Männern mit kruden Tätowierungen auf Armen und Brust und entstellenden Narben im Gesicht.
Gleichzeitig bezog sich die Presse während der Notarbartolo-Affäre immer wieder auf eine »hohe Mafia«. Raffaele Palizzolo war zweifellos ein Mafioso, der von Viehdiebstahl und Entführung profitierte; und er war – auch daran bestand kein Zweifel – in der »hohen« Welt der Banken und der Politik zu Hause. So stand ihm das Etikett »hoher Mafioso« ebenso gut zu Gesicht wie sein maßgeschneiderter Frack.
Doch war die Bezeichnung »hohe Camorra« wirklich eine akkurate Beschreibung der systematischen Gaunerei, die Saredos Ermittlungen in Neapel zutage gefördert hatten? Der Politiker im Zentrum des Skandals, Alberto Casale, war erwiesenermaßen ein Ganove und wie Palizzolo ein Meister der Günstlingswirtschaft. Doch ihn einen Camorrista zu nennen, wäre nicht wirklich korrekt. Während sich der Politiker Casale gewiss nicht zu schade war, mit der Camorra Geschäfte zu machen, war er nicht im selben Maße Teil der Organisation, wie Don Raffaele Teil der Mafia war.
Dies bedeutete im Klartext, dass die Camorra nicht so mächtig war wie die Mafia. Die Camorra war zwar mit Teilen des Staates eine konstante Partnerschaft eingegangen, jedoch nicht in dem Maße selbst zum Staat geworden wie die sizilianische Mafia.
Senator Saredo brachte keinerlei Beweise vor, um seine Verwendung des Begriffs »hohe Camorra« zu untermauern. Seine Ermittlungen förderten keine einzige Blut- oder Geldspur zutage, die von der Oberwelt der Politik in die Unterwelt der niederen Camorra geführt hätte. Letztere blieb im Grunde nur ein verschwommener Fleck in Saredos Blickfeld.
Saredos provokante Sprache war daher irreführend, aber verständlich. Seit Italien von der Existenz einer kriminellen Sekte namens Camorra wusste, verwendete es den Begriff »Camorra« auch in einem weitaus vageren Sinne, als Beleidigung gegen jede beliebige Clique oder Gruppierung – die der anderen, versteht sich. Gegen Ende des 19 . Jahrhunderts wurde das Schimpfwort mit neuer Galle durchtränkt. Die Italiener waren bitter enttäuscht von der Art und Weise, wie im Lande Politik betrieben wurde. Das Einfädeln von krummen Geschäften, der Amtsmissbrauch, die Schlägermethoden: Die »Camorra«, so schien es bisweilen, beherrschte sämtliche Bereiche der Verwaltung. Die Politikverdrossenheit –
antipolitica
, wie sie manchmal genannt wird – ist seit damals ein konstanter Zug der italienischen Gesellschaft. Mit seinem Gerede von einer »hohen Camorra« bewies der alte Juraprofessor, dass er eine boshafte Ader hatte: Er rief wissentlich etwas ab, das mittlerweile zum konditionierten Reflex in der öffentlichen Meinung geworden war.
Sobald sich erkennen ließ, dass Saredos Ermittler ernsthafte Arbeit leisteten, warfen einige führende Politiker ihnen Knüppel zwischen die Beine: Saredos »hohe Camorra« machte mobil, um sich zu verteidigen. Fügsame Journalisten überhäuften den Senator mit Beschimpfungen. Da sie um die Gefahr wussten, die eine Welle der »Politikverdrossenheit« darstellte, appellierten sie an einen weiteren konditionierten Reflex des italienischen Gesellschaftslebens, einen argwöhnischen, defensiven Lokalpatriotismus. Der aus dem Norden stammende Saredo habe das Image Neapels beschmutzt, heulten die Leitartikel. Vielleicht habe es tatsächlich einige Fälle von Korruption gegeben, doch seien sie lediglich Neapels Armut und Rückständigkeit geschuldet. Die Stadt brauche keine überheblichen Predigten, sondern mehr Geld von der Regierung. Viel mehr Geld.
In Italien hat die öffentliche Entrüstung eine kurze Halbwertszeit. Immer wenn es ihr misslingt, eine Veränderung herbeizuführen, zerfällt sie nach und nach in weniger flüchtige Gefühlszustände: Überdruss, Vergesslichkeit oder grämliche Gleichgültigkeit. Bis 1904 hatte sich die Welle der Entrüstung über korrupte Politiker und das organisierte Verbrechen, die noch die Jahrhundertwende geprägt hatte, schon fast wieder gelegt. Raffaele Palizzolo wurde schließlich von dem Vorwurf freigesprochen, im Juli jenes Jahres die Ermordung des Bankiers Emanuele
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