Omertà - Die ganze Geschichte der Mafia: Camorra, Cosa Nostra und ´Ndrangheta (German Edition)
Notarbartolo angeordnet zu haben. Auch in Neapel riefen der Casale-Prozess und die Saredo-Ermittlungen nicht mehr dieselbe Empörung hervor. Nachdem die Sozialistische Partei versucht hatte, aus den Skandalen Nutzen zu ziehen, war sie nun gespalten und wegen eines misslungenen Generalstreiks diskreditiert. Die Bosse der »hohen Camorra« konnten zum Gegenschlag ausholen.
Der damalige Premierminister war Giovanni Giolitti – die prägende Figur in der italienischen Politik zwischen Jahrhundertwende und Erstem Weltkrieg. Giolitti war ein Meister des parlamentarischen Taktierens, beherrschte besser als jeder andere das verschlagene Spiel, Splittergruppen zur Bildung einer Koalition zu bewegen.
Zu Beginn des 20 . Jahrhunderts regierte Giolitti das Land in einer Phase beispiellosen wirtschaftlichen Wachstums und führte einige höchst willkommene soziale Reformen ein. Doch seine zynische Ader machte den Staatsmann ebenso verhasst, wie er unentbehrlich war. »Für deine Feinde wendest du das Gesetz an. Für deine Freunde legst du es aus«, erklärte Giolitti einmal und untergrub mit dieser Aussage, die nur allzu treffend die vorherrschenden Werte innerhalb des italienischen Staates auf den Punkt brachte, das Vertrauen der Menschen in die Institutionen. Er verglich außerdem die Aufgabe, Italien zu regieren, mit dem Ansinnen, einen Anzug für einen Buckligen zu nähen. Es wäre zwecklos, erklärte er, wenn der Schneider versuchte, die körperlichen Unzulänglichkeiten des Buckligen auszugleichen. Er müsse vielmehr einen missgebildeten Anzug schneidern. Italiens größte Missbildung war natürlich das organisierte Verbrechen, und Giolitti erwies sich als ebenso eigennützig wie seine Vorgänger, indem er seine politische Linie danach schneiderte. Ein späterer Kritiker, empört über die Art und Weise, wie die Präfekten im Süden Gangster engagierten, um die Wahlen zu beeinflussen, nannte Giolitti »den Minister der Unterwelt«.
Im November 1904 wandte Giolitti (dessen Helfershelfer in Neapel alles daransetzten, die Autorität der Saredo-Untersuchung zu untergraben) sämtliche schwarzen Künste des Innenministeriums an, um die allgemeinen Wahlen zu manipulieren. Im Vicaria-Viertel, dem Wahlbezirk Neapels, der 1900 einen sozialistischen Abgeordneten gewählt hatte, erhielten Camorristi – die wahren, niederen Camorristi – den Auftrag, Anhänger der Sozialisten zu schikanieren. Am Wahltag standen neben der Polizei Ganoven vor den Wahllokalen Wache, wo mit öffentlichen Geldern Wählerstimmen gekauft wurden.
Irgendein Mitarbeiter des Polizeipräsidiums bewies an diesem Tag einen etwas ironischen Sinn für Humor, denn Camorristi, die sich der offiziellen Zustimmung erfreuten, durften sich dreifarbige Kokarden an den Hut stecken. So gingen sie also, wie in den Tagen vor Garibaldis Triumphzug im Jahre 1860 durch Neapel, mit patriotischen rot-weiß-grünen Abzeichen ein schändliches Bündnis mit der Polizei ein. Der traditionelle Schacher um Versprechen und Gefälligkeiten zwischen der »niederen« und der »hohen Camorra« war wieder aufgenommen worden. Offenbar hatte sich nichts geändert.
Kaum 18 Monate später veränderte sich die Lage so drastisch wie noch nie zuvor in der Geschichte der Camorra.
Einer der Camorristi, die am Wahltag des Jahres 1904 mit den dreifarbigen Kokarden durch die Stadt stolzierten, war der Boss der Vicaria-Gruppe der Ehrenwerten Gesellschaft, Enrico Alfano, bekannt als Erricone, »der dicke Heinrich«. Im Sommer des Jahres 1906 wurde Erricone in den »größten Strafprozess der damaligen Zeit« verwickelt, wie die
New York Times
ihn nennen sollte.
Der sogenannte Cuocolo-Prozess war der Stoff, von dem Zeitungsmänner träumten. Geschichten von einer Geheimsekte, die in den Bordellen und Kneipen der Elendsviertel entstanden war und nun die Salons und Clubs der Elite unterwanderte. Polizeikorruption und politische Fahrlässigkeit. Ein Trupp heldenhafter Carabinieri, dazu schurkische Ganoven, theatralische Juristen und sogar ein Camorrapfarrer. Das Drama, das sich in Viterbo abspielte, schien für das neue Medienzeitalter wie geschaffen. Auslandskorrespondenten, Nachrichtenagenturen und die flimmernden Bilder in Pathés
Gazette
konnten nun die Erregung in jeden Winkel des Globus tragen. Der Cuocolo-Prozess war mehr als nur ein Medienereignis: Im Unterschied zur Notarbartolo-Affäre markierte er einen Wendepunkt in der Geschichte des organisierten Verbrechens. Er belebte nicht nur die
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