Omertà - Die ganze Geschichte der Mafia: Camorra, Cosa Nostra und ´Ndrangheta (German Edition)
lokalen Käseblatt, das auf Gerichtssaal-Dramen spezialisiert war. Die Episode werfe ein verstörendes Licht auf Sangiorgi, hieß es darin: Indem er »gegen die Angeklagten in Florenz ein ebenso unerbittliches wie verleumderisches Zeugnis abgelegt hatte«, habe er Aufmerksamkeit heischen wollen, hieß es.
»Unsere Schlussfolgerung? In Palermo findet man die wahre Mafia nicht in der Bevölkerung, sondern bei der Polizei. Genau wie in Florenz, wo die wahren Camorristi nicht auf der Anklagebank sitzen, sondern davorstehen.«
Die Verunglimpfungen wurden von einem ehemaligen Sträfling im Umkreis des organisierten Verbrechens geäußert. Seine Hintermänner waren Palizzolos Anwalt und möglicherweise auch Vincenzo Cosenza, Oberstaatsanwalt von Palermo, der behauptet hatte, während seiner Karriere als »Themispriester« die Mafia niemals bemerkt zu haben – Cosenza galt als enger Freund der Herausgeber der
Tribuna Giudiziaria
.
Das Schwurgericht in Florenz sprach Palizzolo und Fontana im Juli 1904 frei. In London brachte der
Daily Express
die Nachricht in einigen müden Zeilen mit dem Titel »Sieg für die Mafia«. In Palermo wurde der Sieg durch eine Prozession mit Fahnen und Musik gefeiert: Männer trugen Palizzolos Bild auf ihren Revers, Frauen winkten mit Taschentüchern von den Balkonen. Der von der Mafia unterstützte Ausschuss
Pro Sicilia
begrüßte das Urteil als eine großartige Bekräftigung der patriotischen Harmonie und sandte dem Bürgermeister von Florenz ein Dankestelegramm.
»Eine höchst eindrucksvolle Zusammenkunft dieses Ausschusses lobte feierlich die Stadt Florenz, da diese das italienische Volk, indem sie Siziliens tadellosen Leumund bestätigte, im Ideal der Gerechtigkeit vereint hat.«
Leopoldo Notarbartolo wurde durch den Ausgang seines elf Jahre währenden Kampfes seelisch nahezu zerstört. 1900 , nach dem Prozess in Mailand, als Palizzolo zunächst verhaftet worden war und Polizeichef Sangiorgi die Mafiosi der Conca d’Oro ausgehoben hatte, hatte der Sohn des ermordeten Bankiers sich der verlockenden Illusion hingegeben, dass das Untier Mafia mit nur einem Handstreich zu schlagen sei, durchbohrt von der Lanze eines Ritters. Prozess Nummer zwei und drei zermahlten diese Illusion zu bitterem Staub.
»Wie sieht das Ergebnis meiner Bemühungen aus? Palizzolo frei und frohgelaunt. Was die Mafia und ihre Methoden anbelangt: Pro Sicilia rühmt und verherrlicht sie; die Regierung verbeugt sich vor ihr und unterstützt sie; und die elende Insel Sizilien stärkt sie mehr denn je (…) Lebe ich in einer Welt, über die Gott Vater wacht, oder inmitten eines chaotischen Wirkens brutaler Kräfte, entfesselt von abscheulichen, bösartigen Gnomen wie in den skandinavischen Sagen?«
Leopoldo setzte seine Marinelaufbahn fort, grübelte aber noch sieben Jahre über seine Erfahrung nach, woraufhin er weitere fünf darauf verwendete, die Geschichte seines Vaters und seine eigene so sorgfältig wie anrührend zu Papier zu bringen. Er fand nur Trost in der Betrachtung der marinen Fauna, die ihm eine weniger pathetische Metapher für die Art und Weise bot, wie die Kräfte des Guten eines Tages die Mafia besiegen könnten. Er beobachtete, wie Generationen winziger Meeresbewohner leben und sterben, dabei aus Kalksteinablagerungen ihre Miniaturbehausungen schaffen, sie immer höher aufschichten, bis infolge irgendeiner geringfügigen seismischen Verschiebung ein völlig neues Eiland über den Wellen erscheint.
»Die Menschen, die ihre Kräfte bescheiden in den Dienst des Guten stellen, gleichen diesen Meeresgeschöpfen. Eines Tages wird das herrliche kleine Eiland in Erscheinung treten! Gott hat im heiligen Buch der Natur sein Versprechen gegeben.«
Wieder auf der »elenden Insel« Sizilien angekommen, musste sich Ermanno Sangiorgi, einer jener Kämpfer für das Gute, bis zum Sommer 1905 gedulden, ein Jahr nach dem Ausgang des Notarbartolo-Prozesses, um ein Verleumdungsverfahren gegen seinen Kläger zu gewinnen.
Italien hält für jene, die es am meisten lieben, besondere Grausamkeiten bereit. Bald danach beging Sangiorgis Schwiegersohn, der in Pisa für die königliche Familie, das Haus Savoyen, als Verwalter tätig war, Selbstmord, weil er mit der Hand in der Geldkassette ertappt worden war. Sangiorgi traf keine Schuld an der Schande seines Schwiegersohns. Doch der königliche Haushalt machte ihn für einige der Verluste haftbar, was ihn etwas mehr als einen Monatslohn kostete.
Im März 1907 ersuchte
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