Omertà - Die ganze Geschichte der Mafia: Camorra, Cosa Nostra und ´Ndrangheta (German Edition)
politische Kontroverse und befeuerte die Erregung, die Saredos Ermittlungen ausgelöst hatten, zerrte nicht nur erneut die schmutzigen Geschäfte zwischen Camorristi und Politikern an die Öffentlichkeit, sondern drückte der Camorra regelrecht die Luft ab. Mit dem Cuocolo-Fall hörte der als Camorra bekannte Geheimbund auf zu existieren. Erricone war der letzte Oberboss der Ehrenwerten Gesellschaft in Neapel. Und alles begann mit der Entdeckung zweier Leichen.
Die Camorra trägt strohgelbe Handschuhe
Am Morgen des 6 . Juni 1906 , kurz vor neun Uhr, verschaffte sich die Polizei Zugang zu einer Wohnung in der Via Nardone im Zentrum Neapels. Die Beamten fanden die Bewohnerin, eine ehemalige Prostituierte namens Maria Cutinelli, tot auf einem blutgetränkten Bett; sie war mit einem Nachthemd bekleidet und wies zahlreiche Stichwunden – insgesamt 13 – in Brust, Bauch, Oberschenkel und Genitalien auf. Die Polizei vermutete ein Verbrechen aus Leidenschaft und machte sich sofort auf die Suche nach dem Ehemann des Opfers, Gennaro Cuocolo.
Die Jagd war vorüber, ehe sie begonnen hatte. Bald kam die Nachricht aus Torre del Greco, einer Ortschaft, die zwischen Vesuv und Meer eingeklemmt war, etwa 15 Kilometer von der Stadt entfernt: Im Morgengrauen war Gennaro Cuocolo tot aufgefunden worden. Seine Leiche lag an einem Weg, der hinter dem Schlachthaus an der Küste entlangführte. Sie wies 47 Stichwunden auf, der Schädel war zertrümmert worden. Ein Großteil von Torre del Greco war infolge eines unlängst erfolgten Vulkanausbruchs noch immer von Asche bedeckt. Dank der Kampfspuren im schwarzgrauen Teppich ließen sich die letzten Sekunden in Cuocolos Leben rekonstruieren: Es gab mehrere Angreifer; nachdem sie ihr Opfer getötet hatten, legten sie die Leiche auf eine niedrige Mauer mit Blick auf das Meer – als wollten sie sie zur Schau stellen. Cuocolos Blut vermischte sich mit demjenigen, das aus dem Schlachthaus durch einen Rinnstein hinaus auf die Klippen floss.
Es gab einige Indizien, die das wahre Motiv für die Morde erahnen ließen. Cuocolo hatte sich seinen Lebensunterhalt verdient, indem er Einbrüche in Auftrag gab und mit der Beute Hehlerei trieb. Er war berüchtigt dafür, mit dem organisierten Verbrechen im Bunde zu stehen – als ein ehemaliges Mitglied der Ehrenwerten Gesellschaft im Stadtviertel Stella, um genau zu sein. Die Schlussfolgerung lag natürlich auf der Hand: Die Camorra hatte das Ehepaar Cuocolo getötet.
Die Hauptverdächtigen waren schnell gefunden. Während Gennaro Cuocolo mittels Messerstichen und Knüppelschlägen zu Tode gebracht worden war, hatten sich fünf Männer im Mimì a Mare, einer malerischen Trattoria wenige hundert Meter vom Tatort entfernt, ein üppiges Mahl aus gebratenem Aal schmecken lassen. Die fünf wurden verhaftet: Wenigstens drei von ihnen waren bekannte Ganoven, einer davon Erricone, der eigentliche Oberboss der Ehrenwerten Gesellschaft, wie die Polizei sehr wohl wusste.
Und doch gelang es den Ermittlern zunächst nicht, konkrete Beweise zutage zu fördern, die die Gäste im Mimì a Mare mit dem Blutbad hinter dem Schlachthaus in Verbindung gebracht hätten. Keiner der fünf hatte den Tisch lange genug verlassen, um Cuocolo zu töten. Erricone und seine Freunde kamen frei, sehr zum Ärger der Öffentlichkeit in Neapel.
Der entscheidende Durchbruch erfolgte erst zu Beginn des darauffolgenden Jahres, als Ergebnis der langjährigen Rivalität zwischen den beiden Zweigen des italienischen Polizeisystems. Die
Pubblica Sicurezza
, die normale Polizei, unterstand dem Innenministerium, die Carabinieri, die Militärpolizei, dem Kriegsministerium. Theoretisch patrouillierten beide Sicherheitskräfte in unterschiedlichen Bezirken: Die Polizisten waren für kleine und große Städte zuständig, die Carabinieri für die Provinz. In der Praxis jedoch überlappten sich ihre Pflichten des Öfteren. Die Cuocolo-Untersuchung war ein klassisches Beispiel für die Spannungen und Revierkämpfe, die sich nicht selten hieraus ergaben.
1907 entzogen die Carabinieri der Polizei die Kontrolle über die Ermittlungen im Cuocolo-Mord und legten bald die beunruhigende Zeugenaussage eines Mannes vor, den man heute als Topinformanten bezeichnen würde: Es handelte sich um einen jungen Pferdehändler, Stallburschen, Gewohnheitsdieb und Camorrista namens Gennaro Abbatemaggio.
Gennaro Abbatemaggio machte Geschichte, indem er das Schweigegelübde brach. Er schilderte jedes Detail der
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