Omertà - Die ganze Geschichte der Mafia: Camorra, Cosa Nostra und ´Ndrangheta (German Edition)
gut zurechtgelegte Zeugenaussage verkaufen zu können, strebten Gauner aus allen Winkeln Neapels zu den Kasernen der Carabinieri, wo die Ermittler ihr Hauptquartier hatten. Die ausgekochtesten Zeugen verschacherten ihre Geschichten nach drei Seiten, hieß es.
Die Carabinieri verwandelten die Gerüchte um die gekauften Zeugenaussagen in ein politisches Druckmittel. Im Dezember 1910 beklagten sie in einem geheimen Bericht, den sie an ihr Oberkommando in Rom schickten, dass die Camorra sich aller erdenklichen Tricks bediene, um die Ermittlungen gegen sie zu behindern. Sogar Zeitungen seien den Ganoven bereits zu Diensten. Wer vermochte zu sagen, wie weit ihr Einfluss schon reichte? Eine Niederlage im Fall Cuocolo würde nicht nur dem Korps, sondern auch der Zukunft der öffentlichen Ordnung in Neapel einen »irreparablen Schaden« zufügen. Der Bericht schloss mit einer aufschlussreichen Bitte um »moralische und materielle Unterstützung«.
»Wir halten es vorerst für notwendig, dass Gelder in Höhe von 20 000 Lire verfügbar gemacht werden. Wir brauchen tüchtige, gut bezahlte und vertrauenswürdige Informanten, die ihr Wissen nicht einfach an den Meistbietenden verkaufen. Andernfalls könnten sie falsche Informationen liefern, die während des Prozesses zu ernsthaften Zwischenfällen führen könnten.«
Mit anderen Worten: »Könnten wir bitte mehr Geld haben, um unsere Zeugen zu bezahlen?«
Es dürfte kaum überraschen, dass schließlich vier Jahre und neun Monate erforderlich waren für die Ermittlungsarbeit und die juristische Vorbereitung, bis man die Morde an Gennaro Cuocolo und Maria Cutinelli der Camorra anlasten konnte.
Der kriminelle Atlantik
Diese Ermittlungsphase war ausgesprochen ereignisreich. Als Gennaro Abbatemaggio sich zu Beginn des Jahres 1907 an die Polizei wandte, setzte sich Erricone, als Heizer auf einem Dampfer getarnt, nach New York ab.
Mittlerweile war für das organisierte Verbrechen in Italien längst ein überseeisches Zeitalter angebrochen. Der erste Mafiamord auf amerikanischem Boden – zumindest der erste, von dem wir wissen – geschah am 14 . Oktober 1888 , einem Sonntag: Das Opfer, ein gewisser Antonio Flaccomio aus Palermo, hatte in einem sizilianischen Restaurant ein Glas getrunken, als er unmittelbar vor Manhattans gefeiertem Cooper Union-Gebäude erstochen wurde. Doch die Geschichte der Mafia in Amerika hatte schon lange vor diesem Tag begonnen. Verbrecher aus Sizilien hatten sich bereits vor der Einigung Italiens in die USA geflüchtet. New York und New Orleans waren die Hauptabsatzmärkte für Zitrusfrüchte aus Sizilien und wurden daher auch die ersten Mafiastützpunkte in den Vereinigten Staaten.
Um die Jahrhundertwende wurden aus den Zehntausenden, die alljährlich den Atlantik überquerten, Hunderttausende: Im Jahre 1913 , auf dem Höhepunkt des Exodus, waren es beeindruckende 870 000 Personen. Die Emigration hatte Auswirkungen auf die Wirtschaft des bäuerlichen Südens: Migranten schickten Geld nach Hause, und ihre Abwesenheit trieb die Löhne derer, die im Land geblieben waren, in die Höhe.
Die neue Auswanderungswelle brachte auch Mitglieder der drei großen kriminellen Vereinigungen Italiens nach Amerika. Nachdem das organisierte Verbrechen aus Italien zunächst nur in New Orleans oder Mulberry Bend zum lokalen Ärgernis geworden war, wurde es bald zu einem nationalen Problem für die Vereinigten Staaten.
Die beiden Ufer des kriminellen Atlantiks waren durch zahllose schlaue Fäden miteinander verbunden. Ziehen wir an einem dieser Fäden – Erricones Flucht nach New York –, erhalten wir eine schwache Ahnung, wie umfassend und dicht gewoben die Geschichte des italo-amerikanischen Gangstertums tatsächlich ist. (Zu umfassend, um hier erzählt zu werden.)
Erricones Fluchtversuch währte nicht lang: Er wurde bald aufgespürt und von Lieutenant Giuseppe Petrosino, genannt »Joe«, zurück nach Neapel geschickt. Joe Petrosino war in Salerno zur Welt gekommen und hatte in der New Yorker Polizei Karriere gemacht, indem er das organisierte Verbrechen aus Italien bekämpfte. Wir könnten ihn uns als potentiellen Erben des Mantels vorstellen, den Ermanno Sangiorgi soeben an den Nagel gehängt hatte: Petrosino war für das nach Übersee ausgewanderte Verbrechen ausreichend amerikanisiert.
1909 , während die Cuocolo-Ermittlungen noch im Gange waren, stattete Petrosino Italien einen kurzen Besuch ab, um ein unabhängiges Informationsnetzwerk über Gangster
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