Omertà - Die ganze Geschichte der Mafia: Camorra, Cosa Nostra und ´Ndrangheta (German Edition)
gegnerische Lager. Waren Erricone und seine Freunde schuldig oder nicht? Wer war im Recht, Polizisten oder Carabinieri? Einige witterten ein Fehlurteil und führten zeitgleich eigene Ermittlungen durch, zum Verbrechen selbst, aber auch zu der Art und Weise, wie die Carabinieri an Abbatemaggios Geständnis gekommen waren. Andere befürworteten ein scharfes Vorgehen gegen Ganoven, ungeachtet der gesetzlichen Vorschriften.
Ein Großteil der sozialistischen Presse stimmte in das Gezeter mit ein, wie vorherzusehen war angesichts der erfolgreichen Kampagne, die zum Casale-Prozess geführt und der »hohen Camorra« einige Jahre zuvor einen empfindlichen Schlag versetzt hatte. Dabei erkannten die Sozialisten, dass sie einen völlig unerwarteten Verbündeten in der rechtsgerichteten Tageszeitung
Il Mattino
hatten, der auflagenstärksten Zeitung in Neapel.
Wie wir bereits gesehen haben, fanden die Kommentatoren des
Mattino
meist schmeichelhafte letzte Worte zu den Begräbnisfeierlichkeiten der Ehrenwerten Gesellschaft; als Sprachrohr der »hohen Camorra« gehörte die Zeitung zu denen, die Saredo lautstark vorhielten, er bewerfe durch seine Ermittlungen Neapel mit Schmutz. Edoardo Scarfoglio, der käufliche, aber tüchtige Herausgeber des
Mattino
, hatte enge Freunde unter den Politikern der »hohen Camorra« – Männer, die ihm halfen, seine geliebte Yacht zu finanzieren: Mit der elfköpfigen Mannschaft kostete sie im Unterhalt mehr als das Jahresgehalt eines Präfekten. Trotzdem bejubelte Scarfoglios Zeitung nur wenige Jahre später die Carabinieri, die neuerlich Anlauf nahmen, in der Stadt aufzuräumen. Der Umschwung in der Linie der Zeitung stellte ein gewisses Rätsel dar.
Des Rätsels Lösung bestand zum Teil darin, dass das Bündnis zwischen »hoher« und »niederer« Camorra von Natur aus schwach und chaotisch war. Standen Wahlen ins Haus, waren die Politiker der »hohen Camorra« nur allzu gern bereit, sich der »niederen Camorra« zu bedienen. Schmutzige Gefälligkeiten und Versprechen mit ihnen auszuhandeln, war jederzeit möglich. Kaum forderte jedoch die Öffentlichkeit lautstark die Köpfe von ein paar Verbrechern, wandten dieselben Politiker sich ohne Zögern gegen ihre Helfershelfer aus der Unterwelt.
Die Auflagenhöhe war ein weiterer Grund für das Umschwenken des
Mattino
auf einen camorrafeindlichen Kurs. Die grausigen Cuocolo-Morde hatten die Stadt in Angst und Schrecken versetzt und das organisierte Verbrechen für einen gerissenen Zeitungsmenschen wie Scarfoglio zur Topschlagzeile gemacht. Zum Verdruss vieler Neapolitaner verbarg sich jetzt sogar die »niedere Camorra« hinter einer honorigen Fassade. Verschwunden waren die weiten Glockenhosen, die protzigen Jacken und Haartollen, welche die frühen Camorristi im städtischen Pöbel erkennbar gemacht hatten. Die Ganoven glichen sich jetzt dem Bürgertum an, sogar der höheren Schicht. Der Ausdruck »Camorra in strohgelben Handschuhen« (
in guanti gialli
oder
paglini
) war damals sehr gebräuchlich und ist noch immer eine treffende Etikettierung für die neue Spezies des Gentleman-Ganoven. Handschuhe aus feinem hellen Wildleder waren ein Zeichen von Wohlstand. Wenn also einer »strohgelbe Handschuhe trug«, so bedeutete dies, dass er sich einen falschen Anschein von Vornehmheit gab, um zwischen gesellschaftlich Höherstehenden nicht aufzufallen. Ob es eine »hohe Camorra«, die ähnlich wie die Mafia innerhalb der Regierungsinstitutionen existierte, wirklich gab, sei dahingestellt, doch die Camorra in strohgelben Handschuhen, die gab es zweifellos. Zu Beginn des 20 . Jahrhunderts versteckten Camorristi ihre Tattoos unter respektabler Kleidung und mischten sich unaufgefordert unter die Wohlhabenden.
»Der Lehrer« mit seinem eleganten Spielkasino war dafür ein treffendes Beispiel. Ähnliches galt für das ermordete Ehepaar: Gennaro Cuocolo war ein Hehler und seine Frau Maria Cutinelli eine ehemalige Hafennutte. Trotzdem lebten die beiden in einer stattlich möblierten Wohnung gegenüber der Polizeistation. Cuocolos Modus operandi bestand darin, sich das Vertrauen wohlhabender Familien zu erschleichen, damit er ihre Häuser betreten und herausfinden konnte, welche Gegenstände darin sich zu stehlen lohnten. Er gab daraufhin seinem Einbrecherteam präzise Anweisungen, wie sie sich Zugang verschaffen und was sie mitnehmen sollten: Einbruch nach Maß.
Doch die beunruhigendste Verkörperung des Camorrista in strohgelben Handschuhen war, wie die
Weitere Kostenlose Bücher