Omertà - Die ganze Geschichte der Mafia: Camorra, Cosa Nostra und ´Ndrangheta (German Edition)
Cuocolo-Untersuchung ans Licht brachte, Gennaro De Marinis, in Verbrecherkreisen als
o Mandriere
(»der Kuhhirte«) bekannt, weil er einmal in einem Schlachthaus gearbeitet hatte. Abbatemaggio zufolge war der »Kuhhirte« der Empfänger der Briefe aus Lampedusa gewesen. Der »Kuhhirte« hatte freilich eine interessante Verbrecherlaufbahn vorzuweisen: Er war ein Juwelier, Hehler, Kredithai und Zuhälter und dabei so erfolgreich, dass er samt Dienerschaft ein großes Haus bewohnte.
Der »Kuhhirte« wurde in der Presse als ein neuer, »ultramoderner« Typus des Camorrista beschrieben. Blasierte Gauner wie er unterwanderten die Cafés und Clubs, die von reichen, zügellosen jungen Männern frequentiert wurden. Diesen vermittelten sie die Bekanntschaft mit attraktiven »Schauspielerinnen«, den Zutritt zu exklusiven Spielhöllen, oder gewährten ihnen Bargeldkredite »unter Freunden«. Auf diese Weise bereiteten sie sich einen samtweichen Weg zur Erpressung ihrer Opfer und zu deren finanziellem Ruin.
Es ging in Neapel auch das Gerücht, der »Kuhhirte« habe unwillentlich den Ärger des Königshauses erregt und damit den Zorn der Carabinieri auf die Ehrenwerte Gesellschaft gelenkt. Der schneidige Herzog von Aosta, nach dem sich auf neapolitanischen Bällen manch eine Dame den Hals verrenkte, musste schockiert feststellen, dass er sich bei Sportveranstaltungen mit Camorristi gemein machte; er schäumte vor Wut, als ihm zu Ohren kam, dass der »Kuhhirte« sogar mit diversen blaublütigen Schönen das Bett geteilt hatte. Der Herzog beklagte sich also bei seinem Vetter, dem König, der daraufhin die Polizei veranlasste, die Ermittlungen im Mordfall Cuocolo an die Carabinieri abzugeben. Als der König sich den Camorristi in strohgelben Handschuhen gegenübersah, wies er die Carabinieri an, ihnen die Handschuhe auszuziehen.
Wie so vieles im Zusammenhang mit dem Cuocolo-Prozess, dürften auch diese Gerüchte schwer zu belegen sein. Fest steht jedoch, dass die Ehrenwerte Gesellschaft längst nicht mehr auf die Elendsviertel beschränkt war. Das Drama der Cuocolo-Morde vollzog sich vor der Kulisse eines bürgerlichen Stadtlebens beziehungsweise unter der Pergola des Mimì a Mare in Torre del Greco, wo Erricone mit seinen Männern Aale gegessen und der legendäre Caruso einmal die
maccheroni alle vongole
gelobt hatte. Oder unter den Marmorsäulen und schmuckreichen Lampen der Galleria Umberto I, den prächtigen neuen Arkaden, die im Zuge des umfassenden Sanierungsprogramms nach der Choleraepidemie im Jahre 1884 errichtet worden waren. Abbatemaggio erklärte, Erricone und seine Männer hätten die Cuocolo-Morde hier in der Galleria geplant, vor aller Augen, an den Tischen des eleganten Caffè Fortunio. Die Polizei bestätigte, dass die Galleria regelmäßig von der Camorra frequentiert wurde. Beunruhigenderweise hatten die fettesten Kanalratten jetzt auch die schickeren Stadtviertel erobert.
Dies waren nur die sichtbarsten Symptome der Krankheit. Neapels »hohe Camorra« konnte sich vielleicht noch nicht mit der »hohen Mafia« in Palermo messen, dennoch lauerten die Camorristi in jedem Schlupfwinkel der Stadt. Geldverleih war der Schlüssel. Schulden gehörten zur Lebensart in einer Stadt mit schwacher Konjunktur. Die Armen lebten am Rande der Verelendung, süchtig nach dem regelmäßigen Kick durch einen illegalen Lotterieschein. Die Mittelschicht erhob sich nur geringfügig über die demütigende Armut und gierte nach den kleinen Genüssen, mit denen sie dem zerlumpten Pack, das in den untersten Etagen hauste, ihren Status kundtat. Spielsüchtige aus der Oberschicht liehen sich Geld, um weiterspielen zu können. Die gesamte Stadt war verschuldet. Wie ein Journalist vor Ort es ausdrückte: Kreditwucher war für die Neapolitaner das, was der Absinth für die Franzosen war. Die Ehrenwerte Gesellschaft war darauf spezialisiert, diese Sucht zu stillen.
Während die Cuocolo-Ermittlungen mit Enthüllungen und Kontroversen schleppend vorangingen, wurde die Bekanntheit, derer sich Personen wie der »Kuhhirte« erfreuten, noch durch die schmutzige Art und Weise gesteigert, in der die Beweismittel zusammengetragen wurden. Die Camorristi unter den Angeklagten versuchten – erwartungsgemäß –, sich aus dem Gefängnis freizukaufen. Doch Zeitungen, besonders
Il Mattino
, zahlten auch gern für einen Knüller, egal wie viel Wahres oder Falsches er enthielt. Selbst die Carabinieri schienen davon betroffen zu sein. In der Hoffnung, eine
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