Omertà - Die ganze Geschichte der Mafia: Camorra, Cosa Nostra und ´Ndrangheta (German Edition)
Schwurgericht fungierte. Die Kulisse war eigens für diesen Anlass ausgewählt worden, weil zu befürchten stand, dass sich Geschworene aus Neapel entweder von den Drohungen der Camorra oder vom Camorrafieber beeinflussen lassen könnten, das der Fall hervorrief.
Zeitungsleser und Besucher der Wochenschauen in aller Welt bekamen endlich vielsagende Bilder von den Angeklagten zu sehen, die man in einen großen Käfig im Gerichtssaal gepfercht hatte, und konnten deren schrulligen Spitznamen Gesichter zuordnen.
Zu seinem eigenen Schutz war Gennaro Abbatemaggio allein in einen kleineren Käfig gesetzt worden. Der mittlerweile 28 -Jährige war von kleiner Statur und gut gekleidet. Sein Gesicht wurde von einer langen Narbe verunziert, die von der Wange bis hinunter zur Kinnspitze reichte. Er trug einen kurzen, pomadisierten Schnurrbart, dessen Spitzen keck nach oben wiesen.
»Die Camorra ist eine Laufbahn«, begann er mit seiner angenehmen Baritonstimme, »die vom
picciotto
über diverse Ränge bis zum Camorrista führt.« Er habe sich 1899 , mit 16 Jahren, als
picciotto
der Camorra angeschlossen. 1903 sei er in der Sektion Stella der Ehrenwerten Gesellschaft zum Camorrista befördert worden.
»Camorristi in Neapel beuten gierig Prostituierte aus (…) Sie fordern für alles eine Camorra [Bestechungsgeld], vor allem für zwielichtige, illegale Geschäfte. Sie beziehen die Camorra für verbotene Wetten in den Spielhöllen, die Neapel wie ein Ausschlag überziehen. Sie kassieren sie für Verkäufe bei öffentlichen Auktionen und tragen ihre arrogante Überheblichkeit sogar bei kommunalen und nationalen Wahlen zur Schau (…) Die Bande ist so niederträchtig, dass sie für Geld – bisweilen sind die Beträge geradezu lächerlich gering – sogar bereit ist, Leute abzuschlachten oder zu verunstalten. Camorristi betätigen sich auch als Kredithaie. Der Kreditwucher ist in der Tat ihr einträglichstes Geschäft.«
Abbatemaggio ging nun daran, die Camorra als »eine Art minderwertige Freimaurergesellschaft« zu beschreiben. Mit seiner Schilderung der Regeln, Strukturen und Methoden der Camorra bestätigte er die kriminologischen »Lehrbücher«, die sich in Neapel seit Jahren größter Beliebtheit erfreuten. Er schloss mit einem leidenschaftlichen Appell:
»Meine Aussagen entsprechen der absoluten Wahrheit. Sollte es einer wagen, sie anzuzweifeln, schaue ich ihm hocherhobenen Hauptes offen in die Augen.«
Abbatemaggio fing nun an, seine Erklärung herunterzuspulen, warum die Cuocolos in jener Juninacht fast fünf Jahre zuvor so grausam zu Tode gebracht worden waren: die Briefe aus der Strafkolonie in Lampedusa. Der »Lehrer« und der »Kuhhirte«, die dafür plädiert hatten, dass Gennaro Cuocolo bestraft werden müsse. Die Plenarversammlung der Oberbonzen der Camorra, die in der Trattoria in Bagnoli die Entscheidung für gut befunden hätten. Erricone, der bei mehreren Treffen in der Galleria die Hinrichtungen organisiert habe. Die Brutalität der beiden Killer-Teams. Das Festessen im Mimì a Mare. Die Geschichte von Cuocolos graviertem Ring am kleinen Finger.
Abbatemaggio stand aufrecht und redete so lange, dass er schließlich ein Loch in seinen Schuh schneiden musste, um die Fußsohle zu entlasten, auf der sich eine schmerzhafte Blase gebildet hatte. Während der Pausen gab er seine Fanpost an freundliche Zeitungsschreiber weiter und erklärte, dass er ebenfalls Journalist geworden wäre, hätte er die Gelegenheit gehabt, ein Studium zu absolvieren.
Der Korrespondent des
Mattino
hegte keinerlei Zweifel an Abbatemaggios Ehrlichkeit. Er besitze »eine wunderbare körperliche und geistige Festigkeit«, kommentierte daher die neapolitanische Tageszeitung, und verfüge über einen »ausgeglichenen, robusten Willen«. Undenkbar, dass er alles erfunden haben könnte, wie die Verteidigung es ihm unterstellte.
»Nicht einmal die kühnste Phantasie wäre imstande, die vielen Handlungsstränge in diesem Gerichtsdrama zu knüpfen. Jede Einzelheit, die er äußert, ist direkt aus dem Leben gegriffen – wenn auch aus einem Verbrecherleben: Sein Zeugnis ist intensiv, leidenschaftlich, überwältigend.«
Auch die Verteidigung fand Abbatemaggios Aussage dramatisch, obschon in einem anderen Sinn. Während des Kreuzverhörs verkündete ein Anwalt, er werde beweisen, dass der vermeintliche Insider-Zeuge all seine Kenntnisse über die Ehrenwerte Gesellschaft aus billigen Theaterstücken zusammengetragen habe. Ob Abbatemaggio jemals
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