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Omertà - Die ganze Geschichte der Mafia: Camorra, Cosa Nostra und ´Ndrangheta (German Edition)

Omertà - Die ganze Geschichte der Mafia: Camorra, Cosa Nostra und ´Ndrangheta (German Edition)

Titel: Omertà - Die ganze Geschichte der Mafia: Camorra, Cosa Nostra und ´Ndrangheta (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Dickie
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die Lücken in Don Peppinos bruchstückhaftem Gedächtnis zu füllen. Sie erzählten, wie dieser Sohn eines Holzfällers 1899 aus der von ihm als Unrecht empfundenen Haftstrafe entkommen und dann zweieinhalb Jahre auf dem Gebirgsmassiv des Aspromonte auf der Flucht gewesen sei. Er habe sieben Menschen getötet, erzählten sie, sechs weitere Morde seien missglückt. Dabei habe er beharrlich darauf bestanden, das Opfer eines Justizirrtums zu sein. Je länger er sich der Festnahme zu entziehen vermochte, desto höher stieg sein Ansehen: Bald galt er bei den Leuten als der »König des Aspromonte«. Sie sahen in ihm einen Helden der geknechteten Bauernschaft, ein Symbol des verzweifelten Widerstands gegen einen herzlosen Staat.
    Doch der herzlose Staat, so die Journalisten, habe sich am Ende an ihm gerächt. In den Jahren in Einzelhaft, die seiner Festnahme folgten, verlor Musolino den Verstand. Und so wurde er gänzlich zur tragischen Gestalt.
    1936 äußerte dann ein aus Kalabrien stammender Einwanderer in den Vereinigten Staaten auf dem Sterbebett ein Geständnis: Er selbst, nicht Musolino, habe vor all diesen Jahren auf Vincenzo Zoccali geschossen. Der »König des Aspromonte« hatte während seines Amoklaufs, während der Gerichtsverhandlung und sogar während seines Abtauchens in die geistige Umnachtung heldenhaft an seiner Geschichte festgehalten. Jetzt hatte diese sich als wahr erwiesen.
    Vielleicht ist es kein Wunder, dass der Psychiater in Reggio Calabria seinetwegen so aufgebracht war. »War Musolino ein Feind der Gesellschaft?«, fragte er in einem Zeitungsinterview. »Oder war es die Gesellschaft, die ihn in diese Rolle zwang?«
    Don Peppino erhielt viele Geschenke. Das großzügigste – Nahrung, Kleidung und Geld – kam von Kalabresen, die nach Amerika ausgewandert und dort erfolgreich geworden waren. Gelegentlich erhielt er sogar einen Tag Freigang – wenn ein sentimentaler italo-amerikanischer Geschäftsmann mit Filzhut und Nadelstreifenanzug aufkreuzte, um mit dem alten Banditen einen Autoausflug in die Berge zu unternehmen.
    Aus heutiger Sicht beschleicht einen der Verdacht, dass die Amerikaner, die Giuseppe Musolino ihre Aufwartung machten, möglicherweise die Wahrheit kannten. Er war kein einsamer Banditenheld: Er war ein Mitglied der kalabrischen Mafia, ein Killer der Ehrenwerten Gesellschaft. Die Legende, die sich um den »König des Aspromonte« rankte, diente lediglich dazu, der Öffentlichkeit Sand in die Augen zu streuen, damit sie nicht sah, was wirklich in Kalabrien vor sich ging.
    Nach 1945 – der Krieg war zu Ende, Italien auf dem Weg in die Demokratie und der »König des Aspromonte« befand sich in der Nervenheilanstalt von Reggio Calabria – waren die Methoden dieser Organisation, die heute als ’Ndrangheta bekannt ist, noch immer dieselben wie zu Musolinos mörderischer Glanzzeit. Die Carabinieri hielten Kleinkriminelle »in Zusammenarbeit« mit den Unterweltbossen in Schach. Die Granden bedienten sich der Mafia, um Wählerstimmen zu ergattern, und erwiderten die Gefälligkeit, indem sie vor Gericht bezeugten, dass so etwas wie ein verbrecherischer Geheimbund nicht existierte. Aufeinanderfolgende Regierungen scheuten sich nicht, die Stimmen der von der Mafia unterstützten Parlamentarier einzuheimsen und die Existenz einer Ehrenwerten Gesellschaft auszublenden. Und während Politiker konsequent die Augen verschlossen, konnten Polizei und Justiz in aller Ruhe sämtliche Fakten vergessen, die sie während der Ära des Faschismus über die kalabrische Mafia erfahren hatten – zum Beispiel von Antonio Musolino, dem Bruder des »Königs des Aspromonte«. Zu Beginn der 1920 er Jahre geriet Antonio in Konflikt mit seinem Vetter und
capo
Francesco Filastò (derselbe Vetter, der 1909 im Verdacht stand, Lieutenant Joe Petrosino ermordet zu haben). Schließlich lief Antonio, besiegt, verarmt und gelähmt (infolge eines Revolverschusses konnte er sein linkes Bein und den Arm nicht mehr bewegen), zur Polizei über. Er erzählte den Behörden alles, was er über die kriminelle Organisation wusste, der er angehörte, genau wie sein verfemter Bruder. 1932 wurde sein Zeugnis in einem Gerichtsverfahren gegen 90  Männer verwendet. Die Staatsanwälte gingen davon aus, dass die kalabrische Mafia über ihr eigenes Kontrollorgan verfügte, bekannt als
Gran Criminale
(»Großer Verbrecher«), das sich immer dann einschaltete, wenn es in der Provinz Reggio Calabria einen Streit zu schlichten gab. Den

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