Omertà - Die ganze Geschichte der Mafia: Camorra, Cosa Nostra und ´Ndrangheta (German Edition)
ein Jahrhundert lang beliebt gewesen. Seine klassischen Geschichten erzählten von Edelmut und Verrat unter den Rittern Karls des Großen, die gegen die Sarazenen kämpften. Die Marionetten, in Blechrüstungen steckend und mit leuchtend roten Lippen bemalt, pflegten endlos lange Reden zu schwingen über Ehre und Verrat und sich sodann einem schwankenden Tanz hinzugeben, der den Kampf auf Leben und Tod darstellen sollte.
In Neapel hatten die Puppentheater noch eine weitere Spezialität zu bieten: Geschichten von Edelmut und Verrat in der Welt der Ehrenwerten Gesellschaft. Dass das San Carlino sich noch immer gegen die Kinos behaupten konnte, war weitgehend dem anhaltenden Reiz der Camorradramen zu verdanken. Draußen priesen schlecht gedruckte Plakate die dramatischen Köstlichkeiten an, die im Angebot waren:
HEUTE ABEND
DER TOD DES EHRENWERTEN PEPPE AVERZANO
MIT ECHTEM BLUT
Das Publikum im Inneren war ein Bestandteil des Schauspiels. Die lauten Zwischenrufe – »Verräter!« und »Pass auf!« – aus den Bänken hätten auch im Manuskript stehen können. Die Männer applaudierten kenntnisreich den Kampfeskünsten einiger Camorristi und verurteilten zornig die feigen Kniffe der Gegenseite: »Ihr solltet euch schämen! Zehn gegen einen!« Die Geschichten wiederholten sich: Camorristi, die blutige Gelübde ablegten, sich duellierten oder Marionettenmädchen vor Schande bewahrten. Stets verlief die Handlung nach demselben Muster: Gut gegen Böse, rechtschaffene Entrüstung gegen die prickelnde Lust an der Gewalt. Wenn die Darbietung besonders bewegend war, knarzte und wackelte das San Carlino wie ein Eisenbahnwaggon.
Alle kannten die Helden der Camorra: den Gentleman-Ganoven Don Teofilo Sperino ebenso wie den mächtigen Boss Ciccio Cappuccio; den verschlagenen Nicola Jossa, der immer wieder gegen den mächtigsten Camorrista von allen intrigierte, Salvatore De Crescenzo. All diese Marionettenhelden und -schurken waren einmal reale Gangster gewesen, keine grell bemalten Puppen. Wahre Ereignisse aus der Geschichte der Camorra des 19 . Jahrhunderts erstanden auf der Bühne des San Carlino zu neuem Leben. Das »echte Blut«, das beim dramatischen Ende des Stücks aus der Marionettenbrust spritzte, kam in Wirklichkeit aus einer mit Anilinfarbe gefüllten Saublase. Und während die guten Camorristi hellrotes Blut vergossen, war jenes der Bösewichter dunkel, fast schwarz.
Vor dem San Carlino, in den zerbombten Straßen von Neapel, war die echte Ehrenwerte Gesellschaft seit mehr als 30 Jahren nicht mehr gesehen worden. Es gab aber noch immer einige alte Camorristi. Der berüchtigtste bot allen ein ebenso vertrautes wie armseliges Bild, das Erinnerungen an die alte Camorra und zugleich die seltsamen Umstände ihres Ablebens heraufbeschwor:
Es war Gennaro Abbatemaggio, der umstrittene Kronzeuge, dessen Aussage während des Cuocolo-Prozesses in den Jahren 1911 und 1912 der Ehrenwerten Gesellschaft einen tödlichen Schlag versetzt hatte. Die Jahre seit dem Cuocolo-Prozess waren nicht die besten für Abbatemaggio. Er war ein kleiner, rundlicher alter Mann geworden und nahezu kahl. Auf den ersten Blick wirkte er elegant in seinem Anzug mit dem offenen Hemd oder im dunklen Rollkragenpullover unter dem sportlichen Jackett und der Sonnenbrille. Doch die fadenscheinige Schneiderarbeit führte niemanden hinters Licht, der ihn aus der Nähe sah. Denn Don Gennaro, wie Journalisten ihn mit ironischer Ehrerbietung nannten, war nahezu mittellos. Er lebte von der Hand in den Mund, von kleinen Diebstählen und Betrügereien. Niemand hätte sich um sein Schicksal geschert – wäre er nicht zufällig ein lebendes Relikt einer einst furchteinflößenden kriminellen Macht gewesen.
Nach dem Zweiten Weltkrieg bemühte Abbatemaggio sich nach Kräften, auch weiterhin im Rampenlicht zu stehen – zumindest wenn er nicht im Gefängnis saß. 1949 inszenierte er einen Selbstmordversuch und eine Hinwendung zum Glauben; später gab er Interviews auf den Stufen der römischen Kirche, in der er seine Erste Heilige Kommunion empfangen sollte. Als die Frömmigkeit ihren Zweck verfehlte, versuchte er es mit dem Showbusiness. Doch seine wiederholten Bemühungen, die Geschichte seines Lebens verfilmen zu lassen, verliefen im Sand. 1952 musste er sich damit begnügen, bei der Premiere des Films
Processo alla città
(
Stadt ohne Moral
) gemeinsam mit den Stars geknipst zu werden. Der Film handelte von dem Gerichtsverfahren im Jahre 1911 , das die
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