Omertà - Die ganze Geschichte der Mafia: Camorra, Cosa Nostra und ´Ndrangheta (German Edition)
einen Richter, den ein Mafiaboss besucht, auf der Stelle ein Verfahren eingeleitet. Doch in der konservativen Welt des christdemokratischen Italien wurden die Angelegenheiten zwischen der sizilianischen Mafia und den Richtern auf freundlichere Art und Weise geregelt. Staat und Mafia waren Partner, im Namen des Gesetzes.
Kalabrien: Der letzte romantische Bandit
Was das organisierte Verbrechen anbelangte, war der Gedächtnisschwund im Italien der Nachkriegszeit ebenso anhaltend und komplex wie die Geologie des Landes: Seine Schichten bestanden aus den Ablagerungen von Unvermögen und Nachlässigkeit; die kunstvollen Faltenwürfe waren durch den Druck von Verdunkelung und politischem Zynismus entstanden. Nach Kriegsende hatte diese Amnesielandschaft in Kalabrien eine ihrer auffälligsten Formationen hervorgebracht.
1945 kehrte Italiens beliebtester geisteskranker Krimineller in das Land zurück, in dem er sich einen Namen gemacht hatte. Mittlerweile 70 Jahre alt und längst für harmlos befunden, wurde Giuseppe Musolino, der »König des Aspromonte«, von einer Gefängnis-Irrenanstalt in Norditalien in eine zivile Nervenheilanstalt im Süden Kalabriens verlegt.
Musolinos neues Zuhause war ein Ort des Grauens. Obwohl es ein Gebäude aus faschistischer Zeit war, also relativ neu, blätterte schon der Putz von den Wänden, als Mussolinis zerschundener Leichnam kopfüber von den Sparren einer Mailänder Tankstelle baumelte. Kahl, verdreckt und überfüllt, hallten die Zimmer und Flure der Klinik wider vom Geschnatter und Geschrei gequälter Seelen. Doch Ende der 1940 er und zu Beginn der 1950 er Jahre, als die Küste Kalabriens noch nicht von Schnellstraßen und unsoliden Bauten verschandelt war, bot die Klinik immerhin einen hübschen Rundblick: nach vorn die Aussicht auf die Stadt Reggio Calabria und die Meerenge von Messina; nach hinten die bewaldeten Schultern des Aspromonte – des rauen Berges, der einmal Musolinos Reich gewesen war.
Der Neuankömmling zog ungleich mehr Aufmerksamkeit und Sympathie auf sich als die übrigen Patienten. Er war schließlich eine lebende Legende in Kalabrien. »Don Peppino« nannten ihn die Ärzte und Krankenschwestern, wobei sie den respektvollen Titel mit dem Kosenamen kombinierten. Trotz seines desolaten Geisteszustands mühte sein schwacher Körper sich nach Kräften, dieser Aura gerecht zu werden. Musolino war mager, aber von der jahrzehntelangen Haft ungebrochen. Sein rauer Bart wirkte auffallend weiß gegen den dunklen Teint, so dass der Alte teils einem Athener Philosophen, teils einem Faun glich, wie ein Journalist bemerkte. Eine Schauspielerin, die sich bemüßigt sah, der Klinik einen Besuch abzustatten, stellte verblüfft eine Ähnlichkeit mit Luigi Pirandello fest, dem großen sizilianischen Dramatiker, dessen Erzählungen von Verstellung und Wahn ihm den Nobelpreis eingebracht hatten.
Musolinos eigener Wahn erhielt von einer um die Mitte des 20 . Jahrhunderts noch wenig versierten Psychiatrie das Etikett: »fortschreitendes interpretatives Delirium« und »wahnhafte Erhöhung der eigenen Person«. Kurzum, er hielt sich für den Herrscher der Welt. Er verbrachte den Großteil des Tages im Freien, rauchte, las und betrachtete den Schatten der Zypressen im nahegelegenen Friedhof. Doch sobald er irgendjemanden fand, der die Geduld aufbrachte, mit ihm zu sprechen, nutzte er die Gelegenheit, um die Hierarchie zu erläutern, an deren Spitze er stand, von Königen, Königinnen und Prinzen zu erzählen und vom Gezücht der Polizisten und Verräter tief unter ihm.
Polizisten und Verräter waren Don Peppino verhasst. Und wenn er mit Besuchern sprach, war dieser Hass oft der Weg zu jenen Winkeln seines Geistes, die noch hell und klar waren. »Banditen müssen töten«, pflegte er einzulenken, »aber sie müssen Ehre im Leib haben.« Für Musolino war Ehre gleichbedeutend mit
vendetta
, Rache: Sämtliche Verbrechen, die zu seiner Verhaftung geführt hatten, waren von ihm verübt worden, um das Unrecht zu rächen, das ihm seitens der Polizei und deren Spitzeln widerfahren war. Selbst in seiner Geistesverwirrung setzte er die Ehre über alles: Er wurde nicht müde, stolz zu betonen, dass er keinen seiner Morde je geleugnet hatte. Schließlich waren die Opfer allesamt nur Polizisten und Polizeispitzel gewesen.
Die Zeitungsleute, die die lange Reise zur Nervenheilanstalt in Reggio unternommen hatten, nutzten die Gelegenheit, in die Vergangenheit einzutauchen und für ihre Leser
Weitere Kostenlose Bücher