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Omertà - Die ganze Geschichte der Mafia: Camorra, Cosa Nostra und ´Ndrangheta (German Edition)

Omertà - Die ganze Geschichte der Mafia: Camorra, Cosa Nostra und ´Ndrangheta (German Edition)

Titel: Omertà - Die ganze Geschichte der Mafia: Camorra, Cosa Nostra und ´Ndrangheta (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Dickie
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Streit zwischen Antonio Musolino und seinem Vetter zu schlichten war ihm allerdings nicht gelungen. Die noch vorhandenen Beweismittel legen nahe, dass der
Gran Criminale
dieselbe Funktion hatte wie das Gremium, das heute als das Große Verbrechen bezeichnet wird und das den Ermittlern erst seit 2010 bekannt ist. Anders gesagt: Die Amnesie der Nachkriegszeit hatte Italien im Hinblick auf das Wissen um die homogene Struktur der Ehrenwerten Gesellschaft Kalabriens vermutlich 80 vergeudete Jahre gekostet.
    Unterdessen waren träge Journalisten froh – wie bereits während Musolinos Mordserie –, die Legende vom »König des Aspromonte« noch weiter ausschlachten zu können, obwohl ihre Primärquelle ein mittlerweile geistesverwirrter, seniler Killer war. Musolino wiederum lebte als Herrscher des Universums, kommandierte Raumschiffe und ersann Waffen, deren Zerstörungskraft größer war als die der Atombombe. In seinem umnachteten Zustand wurde er zur Metapher für Italiens eigenes kognitives Scheitern. Die Gründe für dieses Scheitern waren letztlich sehr einfach. Im südlichen Kalabrien hatte der Konflikt zwischen der Linken und der Rechten bei weitem nicht jene Sprengkraft, die Sizilien zur politischen Chefsache machte und einen solch erbitterten Kampf zwischen Mitgliedern der Mafia und Vertretern des Gesetzes entfachte. Kalabrien war nach wie vor Italiens ärmste und am meisten vernachlässigte Region. Die ’Ndrangheta konnte vergessen werden, weil die Region, aus der sie kam, schlicht nicht zählte.
    Die Filmindustrie jedoch vermochte der Geschichte des »Königs des Aspromonte« nicht zu widerstehen. Während der Zeit des Faschismus hatte Benito Mussolini aufgrund der Namensähnlichkeit jeden Versuch unterbunden, über Musolinos Leben einen Film zu drehen. 1950 endlich wurden zwei der größten Stars Italiens, Amedeo Nazzari und Silvana Mangano, für den Streifen
Il brigante Musolino
engagiert. An Originalschauplätzen auf dem Aspromonte gedreht, erzählte dieser Film, wie Musolino, aufgrund falscher Zeugenaussagen zu Unrecht des Mordes für schuldig befunden und eingesperrt, aus dem Gefängnis ausgebrochen war, um ein geächteter Held zu werden. Der Film wurde bei den italienischen Einwanderern in den Vereinigten Staaten ein Knüller.
    Giuseppe Musolino starb im Januar 1956 im Alter von 79  Jahren. Die Zeitungen in ganz Italien brachten erneut seine Geschichte und nannten ihn »den letzten romantischen Banditen«.
    Neapel: Puppen und Puppenspieler
    1930 las man in Italiens erster großer Enzyklopädie, der
Enciclopedia Treccani,
unter »Camorra« den folgenden Eintrag:
    »Die Camorra war eine Vereinigung von Männern aus der Unterschicht, die mit erpresserischen Mitteln die Lasterhaften und Feigen dazu nötigten, ihnen Tribut zu zollen. Ihre Äste durchzogen das gesamte Königreich Neapel; sie verfügte über eigene Gesetze und Gebräuche, eine straff organisierte Hierarchie, spezielle Verbindlichkeiten und Pflichten sowie eine eigene Sprache und eine eigene Rechtsprechung (…) Die Ausbildung eines sittlichen Empfindens sowie die verbesserten Lebensverhältnisse konnten die Camorra am Ende besiegen (…) Nur das Wort besteht bis heute und bezeichnet ein schimpfliches oder schikanöses Verhalten.«
    Die Camorra war tot: Diese stolze Behauptung entsprach ausnahmsweise der Wahrheit, nicht den Propagandazwecken des faschistischen Regimes. Während die Gangster Kalabriens die gesellschaftliche Leiter emporgestiegen waren, bis sie mit dem Staat verschmolzen, ließen die Camorristi in Neapel die Gosse nie ganz hinter sich. Weil sie nicht mit dem politischen Schutz rechnen konnte, den die Mafias in Sizilien und Kalabrien genossen, war die Camorra verwundbar. Mit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs war die Ehrenwerte Gesellschaft (zumindest in Neapel) am Ende.
    Im Neapel der späten 1940 er Jahre war ein kleines Theater einer der wenigen Orte, an denen das Wort »Camorra« regelmäßig fiel, das San Carlino. Sein Eingang war schwer zu finden: eine Tür, versteckt zwischen den Bücherständen, die sich um die Porta San Gennaro drängten. Der Zuschauerraum im Inneren fasste mit Müh und Not sieben wackelige Bänke. Die Bühne war nur um ein weniges breiter als der aufgeklappte Flügel, der davorstand. Es war der letzte winzige Vorposten einer im Verschwinden begriffenen Kunstform für das ungebildete Volk: das einzige noch existierende Puppentheater der Stadt.
    Das Puppentheater war in Sizilien und Süditalien über

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