Omertà - Die ganze Geschichte der Mafia: Camorra, Cosa Nostra und ´Ndrangheta (German Edition)
Ehrenwerte Gesellschaft ausgelöscht hatte.
Vom Kino ausgeschlossen, sah Abbatemaggio seine letzte Hoffnung in der Neubelebung seines glorreichen Auftritts. Er behauptete also, er habe sensationelle Enthüllungen über einen der rätselhaftesten Mordfälle des Jahres 1953 zu machen: den Tod des römischen Mädchens Wilma Montesi. Doch bald schon kam ans Licht, dass das alte Schlitzohr wieder am Werke war. Er wurde verhaftet und wegen Falschaussagen verurteilt. Danach sah man ihn betteln. Die Presse ignorierte ihn fortan.
Wenn also im Nachkriegsneapel das Wort »Camorra« fiel, dann nur, um die Erinnerung an sie wachzurufen, und zwar mit derselben Mischung aus Belustigung und Bedauern, wie sie Zeitungsgeschichten über das Marionettentheater oder Gennaro Abbatemaggio hervorriefen.
Heute, über ein halbes Jahrhundert nach Abbatemaggios Tod, hat das Wort »Camorra« eine andere Bedeutung. In den Jahrzehnten seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs ist die Ehrenwerte Gesellschaft neu erstanden und hat sich eine neue Identität zugelegt; sie ist heute stärker und verschlagener denn je. Sie ist auch keine Ehrenwerte Gesellschaft mehr, ein krimineller Geheimbund mit eigenen Initiationsritualen, formalisierten Zweikämpfen, festen Rängen und Regeln. Ein Camorrista von heute gehört nur einem der vielen strukturierten, aber oft instabilen Gangstersyndikate an. Die Camorra ist daher nicht
ein
einzelner Geheimbund wie die Mafias in Sizilien und Kalabrien, sondern eine große, sich unentwegt verändernde Landkarte aus Gangs, die verschiedene Territorien in Neapel und der Region Kampanien beherrschen. Wie die Ehrenwerte Gesellschaft von einst leben diese Organisationen von Schutzgelderpressung und Schwarzhandel. Allerdings sind sie – zumindest wenn alles für sie glattgeht – ungleich erfolgreicher darin, staatliche Einrichtungen, Politik und Wirtschaft zu unterwandern, als die Ehrenwerte Gesellschaft von einst.
Für die Zuschauer im San Carlino in den späten 1940 er Jahren wäre eine solche künftige Ausprägung der Camorra eine höchst unwahrscheinliche Perspektive gewesen. Ganoven trieben natürlich auch im Nachkriegsneapel ihr Unwesen. Doch hatten sie weitaus weniger Macht als heute – oder als die Gangster Siziliens und Kalabriens. Neapel brachte nichts zuwege, was sich mit der großen Verschwiegenheit hinsichtlich der Mafia vergleichen ließe, zu der sich die herrschende Klasse Siziliens verpflichtet hatte. Es gab kein neapolitanisches Äquivalent zu einem obersten Richter wie Giuseppe Guido Lo Schiavo, der bereit war, wider besseres Wissen, die Existenz der Mafia zu leugnen. Und die große, vielgeplagte Stadt Neapel war alles andere als politisch unsichtbar wie etwa die Städte und Dörfer Kalabriens. Doch bei näherer Betrachtung entpuppen sich die Ganoven im Neapel der Nachkriegszeit doch als die Vorfahren der heutigen, Kalaschnikows schwingenden, Kokain schmuggelnden, teure Anzüge tragenden Camorristi. Die Samen der künftigen Neubelebung der Camorra waren bereits gesät. Es lauerte in der Tat schon etwas Bedrohliches in der Gangsterwelt der Stadt – und dieses Etwas machte nur allzu deutlich, dass die Camorra mitnichten so tot war, wie es die Enzyklopädien behaupteten. Ein sorgsamer Blick auf das neapolitanische Bandenwesen der vierziger und frühen fünfziger Jahre zeigt, dass Italien im Allgemeinen und Neapel im Besonderen ein schlechtes Gewissen hatten, was das organisierte Verbrechen anbelangte. Neapel war eine Stadt, die sich weigerte, das C-Wort im Munde zu führen (es sei denn im Zusammenhang mit der Vergangenheit – dem Theater San Carlino oder Gennaro Abbatemaggio). Kurzum, Neapel besaß sowohl seine eigenen Ganoven als auch spezielle Methoden, deren Existenz auszublenden. Die wirkungsvollste davon war es, Klischees zu bedienen.
Neapel ist von allen Städten Italiens am schwierigsten zu entschlüsseln. Zahllose Besucher haben sich hinreißen lassen, diese Stadt nach ihren Erscheinungsbildern zu beurteilen, da diese so augenfällig und amüsant sind. Seit Hunderten von Jahren fand Europa das sonnendurchflutete Schauspiel des neapolitanischen Straßenlebens unwiderstehlich. Hier schien selbst das Elend voller Farbe, und im unablässigen Lärm vermeinte man wundersam süße Melodien zu vernehmen. Die Armen der Stadt standen im Ruf, die schäbigsten Kniffe anzuwenden, die erniedrigendsten Rollen zu spielen, nur um sich anschließend die Bäuche vollschlagen und dem
dolce far niente
, dem süßen
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