Omertà - Die ganze Geschichte der Mafia: Camorra, Cosa Nostra und ´Ndrangheta (German Edition)
zueinander war von Zank, Hass und Neid geprägt. Jeden Tag kam jemand zu Tode, wurde in entsetzlicher Weise Rache geübt.«
Ein Mord aus Rache war ein Mord zur Verteidigung der persönlichen Ehre, und als solcher konnte er von der Schattenjustiz der Camorra ohne weiteres sanktioniert werden. Ob ein Racheakt rechtsgültig war oder nicht, hing zum Teil von den Statuten und Präzedenzfällen der Gesellschaft ab, die in mündlicher Überlieferung von einer Kriminellengeneration auf die nächste übertragen wurden. Wichtiger jedoch war die Frage, ob ein Camorrista ihn begangen hatte, der furchteinflößend genug war, um seinen Willen durchzusetzen. In der Gefängnis-Camorra, mehr noch als anderswo, wurden die Regeln von den Reichen und Mächtigen bestimmt. Die Ehre war für jene Gesetz, die sich über das Gesetz stellten.
Camorra-»Steuern«. Camorra-»Recht«. Castromediano spricht auch von der »Rechtsprechung« der Camorra, von ihren »Ämtern« und ihrer »Verwaltung«. Seine Terminologie ist augenfällig, konsistent und treffend: Es ist das Vokabular der Staatsmacht. Was er beschreibt, ist ein kriminelles System, das die Mechanismen eines modernen Staates nachäfft – sogar im Grabesdunkel eines Kerkers.
War die Gefängnis-Camorra eine Art Schattenstaat, so hatte sie doch eine sehr interventionistische Vorstellung davon, wie der Staat sich verhalten sollte. Herzog Castromediano sah, dass Camorristi das Glücksspiel und das Trinken förderten, weil sie wussten, dass diese Tätigkeiten mit Steuern belegt werden konnten. (Der Brauch, Spieler mit Bestechungsgeldern zu belegen, war in der Tat so eng mit Gangstern assoziiert, dass er einer beliebten Theorie darüber Vorschub leistete, wie die Camorra zu ihrem Namen gekommen war.
Morra
war ein Spiel, und der
capo della morra
war der Mann, der die Spieler im Auge behielt. Dieser Titel wurde angeblich irgendwann zu
ca-morra
verkürzt. Die Theorie ist umstritten: In Neapel stand der Begriff Camorra bereits für »Bestechung« oder »Erpressung«, ehe irgendjemand daran dachte, ihn auf eine Geheimgesellschaft anzuwenden.)
Kartenspiele und Weinflaschen schufen weitere Verdienstmöglichkeiten: Die Camorra beschaffte die einzige Kreditquelle für glücklose Spieler, und sie kontrollierte die gefängniseigene stinkende, rattenbefallene Schenke. Jeder Gegenstand, den die Camorra von einem Gefangenen beschlagnahmte, der außerstande war, seinen Schuldzins, seine Flasche oder sein Bestechungsgeld zu bezahlen, konnte zu einem haarsträubenden Wucherpreis weiterverkauft werden. Die Verliese hallten wider von den Rufen der Hausierer, die schmierige Lumpen und Kanten altbackenen Brotes feilboten. Ein umfassendes schmutziges Wirtschaftsgefüge entspross der Gewohnheit, die Mitgefangenen auf Schritt und Tritt auszubeuten. Wie ein altes Sprichwort der Camorra besagte: »Facimmo caccia’ l’oro de’ piducchie«: »Wir pressen Gold aus Flöhen«.
Das System der Camorra reichte bis hinauf zur vorgeblichen Gefängnisleitung. Natürlich standen viele Wärter auf der Gehaltsliste der Gangster. Diese Bestechlichkeit verschaffte der Camorra nicht nur den nötigen Handlungsspielraum, sondern brachte zudem weitere Gefälligkeiten in Umlauf. Gegen Entgelt durften Gefangene ihre eigene Kleidung tragen, in Einzelzellen schlafen, erhielten bessere Verpflegung sowie Zugang zu Arzneien, Briefen, Büchern und Kerzen. Indem die Camorra den Warenverkehr zwischen Gefängnis und Außenwelt regelte, erwarb sie sich ein regelrechtes Marktmonopol für geschmuggelte Güter.
So entwickelte die Gefängnis-Camorra ein duales Geschäftsmodell, dazu bestimmt, aus Flöhen Gold zu pressen, bestehend aus der Schutzgelderpressung und dem Handel mit geschmuggelter Ware. Die Camorra von heute basiert nach wie vor auf denselben Prinzipien. Lediglich die »Flöhe« sind größer geworden. Was damals der Groschen für einen Schlafplatz war, sind heute die Anteile an gewaltigen öffentlichen Bauaufträgen. Heute geht es nicht mehr um Kerzen und Lebensmittel, die ins Gefängnis, sondern um Drogensendungen, die ins Land geschmuggelt werden.
Herzog Castromediano verbüßte seine Strafe in mehreren Gefängnissen, und überall herrschte die Camorra. Deshalb handelt seine Geschichte nicht nur von den Ursprüngen der sogenannten neapolitanischen Camorra. Strafgefangene aus verschiedenen Regionen vermischten sich in den Gefängnissen im Süden der italienischen Halbinsel, auf Sizilien und den vielen kleinen Inseln. Sie alle
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