Omertà - Die ganze Geschichte der Mafia: Camorra, Cosa Nostra und ´Ndrangheta (German Edition)
ihre schönen Schwestern Capri und Ischia im Golf von Neapel liegt. In späteren Jahren, wenn der Herzog auf seine Zeit auf Procida zurückblickte, pflegte er einem unverdauten Zorn Luft zu machen:
»Das größte Gefängnis in den südlichen Provinzen. Die Königin der Gefängnisse, der Honigtopf der Camorra und der fetteste Futtertrog für die Kerkermeister und für all jene, die ihren Anteil daran haben, die Camorra zu unterstützen; die große Latrine, in die naturgemäß der abscheulichste Abschaum der Gesellschaft sickert.«
Ausgerechnet in der Gefängnislatrine auf Procida, die geradewegs ins Meer mündete, stieß der Herzog auf eine weitere wesentliche Facette im Camorrasystem. Eines Tages bemerkte er zwei Männchen, die mit Kohle an die Wand gekritzelt worden waren. Das eine hatte weit aufgerissene Glotzaugen, und aus seinem verzerrten Mund kam ein stummes Wutgebrüll. Mit der rechten Hand stieß es dem zweiten Männchen einen Dolch in den Bauch, das sich in entsetzlichen Schmerzen wand. Über den Köpfen der beiden standen ihre Initialen. Unter der Szene war zu lesen »Von der Gesellschaft gerichtet«, gefolgt vom Datum des Tages, an dem der Herzog sie entdeckt hatte.
Castromediano wusste bereits, dass die Camorra sich selbst als »Gesellschaft« oder »Ehrenwerte Gesellschaft« bezeichnete. Doch das Gekritzel an der Wand gab ihm Rätsel auf. »Was hat das zu bedeuten?«, fragte er mit seiner üblichen Unverblümtheit den ersten Mann, dem er begegnete.
»Es bedeutet, dass heute ein Verräter gerichtet wird. Entweder das Opfer, das hier abgebildet ist, befindet sich schon in der Kapelle und tut den letzten Atemzug, oder die Strafkolonie auf Procida wird bald einen Insassen weniger haben, und die Hölle einen mehr.«
Der Gefangene erklärte, wie die Gesellschaft zu einer Entscheidung gelangt war, was die Bosse beschlossen hatten und wie alle Mitglieder, bis auf das Opfer, darüber informiert worden waren, was geschehen würde. Natürlich hatte niemand das offene Geheimnis preisgegeben.
Just als der Mann den Herzog ermahnte, den Mund zu halten, drang aus dem angrenzenden Korridor lautes Fluchen, gefolgt von einem langgezogenen Angstschrei, der nach und nach erstickt wurde, gefolgt wiederum von Kettenrasseln und dem Geräusch eiliger Schritte.
»Es ist vollbracht«, war alles, was der andere Gefangene sagte.
In panischer Angst stürzte der Herzog der eigenen Zelle zu. Doch kaum war er um die erste Ecke gebogen, als er über das Opfer stolperte, das mit drei Stichen ins Herz erledigt worden war. Außer ihm war als Einziger noch der Mann zugegen, der an den Toten gekettet war. Dessen Miene würde Castromediano für immer im Gedächtnis bleiben. Vielleicht war er ja auch der Mörder. Zumindest war er ein Augenzeuge. Und doch starrte er mit »einer unbeschreiblichen Mischung aus Stumpfheit und Grausamkeit« auf den Toten, während er in aller Ruhe darauf wartete, dass die Wärter Hammer und Amboss holten, um ihn von dem toten Kameraden zu befreien.
Castromediano nannte, was er erlebt hatte, einen »Abklatsch« von Gerechtigkeit; in Wahrheit war es ein Mord im Tarngewand der Todesstrafe. Die Camorra hatte den Verräter nicht nur getötet, sondern zudem versucht, den Mord an ihm zu legitimieren, ihn »rechtsgültig« zu machen. Sie hatte eine Gerichtsverhandlung abgehalten, mit einem Richter, mit Zeugen sowie Vertretern der Anklage und der Verteidigung. Urteil und Strafe, die im Prozess bestimmt worden waren, wurden öffentlich verlautbart – wenn auch an einer Latrinenwand anstatt im Gerichtssaal. Die Camorra suchte für ihre richterlichen Entscheidungen auch eine verzerrte Form der demokratischen Zustimmung, indem sie sicherstellte, dass außer dem Opfer jeder wusste, was geschehen würde.
Die Richter der Camorra fällten ihre Entscheidungen nicht im Namen der Gerechtigkeit. Ihr Leitstern war vielmehr die Ehre. Diese Ehre bedeutete nach Auffassung der Gesellschaft (Castromediano bezeichnete diese Auffassung als eine »Verirrung des menschlichen Geistes«), dass ein Mitglied seine Gefährten um jeden Preis schützen und sein Vermögen mit ihnen teilen musste. Streitereien wurden in bewährter Manier durch einen Dolchkampf gelöst; Schwüre und Bündnisse mussten gehalten, Befehle befolgt und fällige Strafen akzeptiert werden.
Obwohl unentwegt von Ehre die Rede war, verlief die Lebensrealität des Camorrista keineswegs harmonisch, erinnerte sich Castromediano.
»Das Verhältnis dieser Verfluchten
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