Omertà - Die ganze Geschichte der Mafia: Camorra, Cosa Nostra und ´Ndrangheta (German Edition)
wiederkehrenden Schwermut infiziert: »Höllenbrut« nannte er sie. »Eine der unmoralischsten und zerstörerischsten Sekten, die die menschliche Niedertracht jemals hervorgebracht hat.«
Der Herzog begann bereits wenige Tage nach seiner Freilassung die Erinnerungen an seine Gefangenschaft niederzuschreiben; doch blieben sie unvollendet, als er 36 Jahre später in seinem Schloss starb. Castromedianos Memoiren lesen sich wie das Werk eines Mannes, der sich vergeblich bemüht, mit seiner Vergangenheit ins Reine zu kommen. Die Erzählweise des Herzogs ist gelegentlich etwas verwirrend, dennoch ist sein Werk eine lebhafte Beschreibung aus erster Hand von dem Ort, an dem Italiens Mafias ihren Ursprung hatten.
Was Castromediano im Gefängnis nicht ahnen konnte: Die Camorra hatte bereits erste Schritte aus dem Kerker und hinaus auf die Straßen unternommen.
Der Pakt mit dem Teufel
Neapel platzte aus allen Nähten. Mitte des 19 . Jahrhunderts lebten dort knapp eine halbe Million Menschen und machten die Hauptstadt des Königreichs beider Sizilien zur größten Stadt Italiens. Mit der höchsten Bevölkerungsdichte in Europa vereinte es mehr Elend auf jedem Quadratmeter als jede andere Stadt auf dem Kontinent. In sämtlichen Höhlen, Kellern, Nischen und Torwegen lebten zerlumpte, ausgemergelte Bewohner.
Die Stadtviertel Porto, Pendino, Mercato und Vicaria waren dafür berüchtigt, dass in ihnen die Not am größten war. Sie bildeten die sogenannte »Unterstadt«. Einige ihrer Gassen waren so schmal, dass es unmöglich war, dort einen Regenschirm aufzuspannen. Ein Großteil der Ärmsten in der Unterstadt hauste in den sogenannten
fondaci
, fensterlosen Lagerräumen, in die man oft ganze Familien mitsamt ihren Tieren gepfercht hatte. Es wimmelte von Ungeziefer, und der Gestank war abscheulich, weil das Abwasser dort die alten Sickergruben überflutete und durch die Gassen lief. In den 1840 er Jahren starben fast 30 Prozent der Neugeborenen in der Unterstadt vor ihrem ersten Geburtstag. In keinem dieser vier Viertel betrug die Lebenserwartung mehr als 25 Jahre.
Doch im Unterschied zu London versteckte Neapel seine Armen nicht. In jeder Straße, auf jeder Piazza boten Händler und Hausierer unter südlicher Sonne alle erdenklichen Waren feil. Die Bewohner der Elendsviertel hielten sich über Wasser, indem sie Lumpen sammelten, Stroh flochten oder Moritaten sangen; sie verkauften Schnecken oder Pizzaschnitten, sammelten Zigarrenstummel oder schleppten Kisten.
Nirgends war die Vielfalt dieser kümmerlichen Wirtschaft offensichtlicher als in der Via Toledo, der Hauptverkehrsader der Stadt und zugleich »lautesten Straße Europas«. Hier sickerte jeden Morgen das Stadtleben aus den Baracken und Palästen, ergoss sich in die Seitengassen und schwoll an zu einer aufgewühlten Flut von Menschen. Arme wie Reiche, flinke Gassenjungen wie flanierende Bürger, allesamt wichen sie den Fuhrwerken in der Via Toledo aus. Es wurde lautstark gefeilscht. Und als herrschte nicht schon genug Trubel, pries ein jeder, von den Wursthändlern mit ihren Kohlenpfannen bis hin zu den Verkäufern von Eiswasser in ihren großartig geschmückten Pagoden, seine Ware mit einem wohltönenden Schrei an.
Die Rührigkeit der armen Leute Neapels hatte allerdings auch eine weniger malerische Seite. Am meisten fühlten Besucher sich durch die Scharen der Bettler behelligt, die ihre verstümmelten Glieder einem jeden entgegenreckten, von dem sie sich einen Groschen erhofften. Kampferprobte Touristen waren der Ansicht, dass die kleinen Taschendiebe in Neapel im internationalen Vergleich die geschicktesten waren. Diebstahl, Betrügerei und Prostitution waren für viele Menschen entscheidende Überlebensstrategien. Die Unterstadt im Besonderen lebte fast gänzlich außerhalb der Gesetze.
Nicht einmal die eifrigste, ehrbarste Polizeitruppe der Welt hätte Ordnung in diesen Menschenschwarm gebracht. So wurde in Neapel die stolze neue Polizeiwissenschaft des 19 . Jahrhunderts sehr schnell zum bescheidenen Programm zur Schadensbegrenzung. Weil Neapel so groß und so arm war, lernte die Polizei, dass dieser Schaden sich am leichtesten begrenzen ließ, indem man mit den ärgsten Lumpen gemeinsame Sache machte.
1857 verfasste Antonio Scialoja ein Pamphlet, das die patriotische Propaganda-Offensive gegen das Königreich beider Sizilien fortführte. Scialoja war ein ausgezeichneter neapolitanischer Ökonom, der in Turin im politischen Exil lebte. Weil er unter
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