Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Omertà - Die ganze Geschichte der Mafia: Camorra, Cosa Nostra und ´Ndrangheta (German Edition)

Omertà - Die ganze Geschichte der Mafia: Camorra, Cosa Nostra und ´Ndrangheta (German Edition)

Titel: Omertà - Die ganze Geschichte der Mafia: Camorra, Cosa Nostra und ´Ndrangheta (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Dickie
Vom Netzwerk:
den Bourbonen hinter Gittern gesessen hatte, war die Gefängnis-Camorra ein Kernstück seiner Polemik. »Die Gesellschaft der Camorristi« sei so mächtig, behauptete er, dass sie in jedem Gefängnis des Königreichs Todesurteile vollstrecken könne. Die Gesellschaft verlange von den Mitgefangenen für jede Gefälligkeit Geld, ohne Ausnahme, berichtete Scialoja, selbst wenn sie dem zu entgehen suchten, was er taktvoll als die »Verderbtheit« – womit er Vergewaltigungen meinte – anderer Häftlinge bezeichnete, müssten sie bezahlen.
    Doch Scialojas Diagnose der Missstände in Neapel setzte sich jenseits der Gefängnismauern fort. Indem er seine buchhalterischen Fähigkeiten nutzte, entdeckte er einen Schmiergeldfonds, der im offiziellen Polizeibudget nicht vermerkt war, und zeigte auf, dass ein Teil dieses Geldes für Schläger und Spitzel ausgegeben wurde. Doch damit nicht genug: Jahrzehntelang hatten die Bourbonen ihre Gendarmen unter den meistgefürchteten Kriminellen der Stadt rekrutiert. Die anständigen Leute in Neapel bezeichneten sie als die
feroci
, »die Wilden«. Es gab, als Scialoja seine Beobachtungen niederschrieb, insgesamt 181
feroci
. Obwohl man ihnen ihre dürftigen Gehälter aus dem offiziellen Polizeibudget zahlte, pflegten sie ihr Einkommen mit Bestechungsgeldern aufzubessern.
    Man könnte diese Art von Arrangement auch als Pakt mit dem Teufel bezeichnen. Denn falls die
feroci
, die mit der Polizei zusammenarbeiteten, an die Camorristi erinnern sollten, die das Gefängnissystem gemeinsam mit den Wärtern im Griff hatten, dann deshalb, weil sie zuweilen mit ihnen identisch waren. Doch die Straßen gemeinsam mit den übelsten Verbrechern zu kontrollieren, war stets ein schmutziges Geschäft. Einige Camorristi bezeigten den kriminellen Kameraden gegenüber größere Loyalität als ihren Zahlmeistern bei der Polizei, während andere sich in den eigenen Reihen verdächtig und unbeliebt machten. Nichtsdestoweniger verfügten jetzt die Bosse, die jahrhundertelang die Verliese kontrolliert hatten, dank dieser neuen Zusammenarbeit von offizieller Seite über die Lizenz, ihre Macht auch in den Straßen durchzusetzen. Zu Beginn der 1850 er Jahre waren Camorristi, herausgeputzt in der neuesten Ganoventracht – pomadisiertes Haar, Samtrock und Schlaghosen – ein ebenso augenfälliger Teil des neapolitanischen Lebens wie Pizzabäcker und umherziehende Glücksspieler.
    Kaum hatte die Gefängnis-Camorra in der Welt draußen Fuß gefasst, tat sie das, was sie am besten beherrschte: Sie presste Gold aus Flöhen. Wie in den Gefängnissen war die Erpressung die Machtbasis der Camorra. Besonders angreifbar waren illegale oder halb illegale Machenschaften. Die Camorristi pflegten jedem Dieb einen Anteil an der Beute abzuknöpfen und dominierten bald im Prostitutionsgeschäft. Auch das Glücksspiel war eine gewinnbringende Branche.
    Große Bereiche der
legalen
Wirtschaft waren bald ebenfalls den Erpressern ausgesetzt. Außenstehende beobachteten nicht selten Camorristi in Aktion, ohne wirklich zu begreifen, was sie da sahen. Kaum stieg der Besucher aus seinem angeheuerten Boot, näherte sich dem Fährmann ein grell gekleideter Mann, oft mit einer Menge Schmuck am Leib, der schweigend einen Obolus erwartete und erhielt. Wenn der Gast am Hotel anlangte, pflegte sein Träger einem untersetzten Mann diskret eine Münze zuzustecken. Und wenn der Besucher eine Droschke bestieg, steckte der Kutscher einem weiteren wartenden Dickwanst Geld zu.
    Camorristi kassierten ihre Steuern an den neuralgischen Stellen der städtischen Wirtschaft: im Hafen, wo Frachten, Fische und Passagiere eintrafen; an den Stadttoren, wo Güter aus dem Umland ankamen; auf den Märkten, wo sie veräußert wurden. Ruderer und Stauer, Zollbeamte und Kutscher, Großhändler und Hausierer: Alle mussten den Tribut entrichten, den die Gefängnisinsassen schon seit langem kannten.
    Das Herz im Neapel der Camorra war das Vicaria-Viertel, damals an der östlichen Stadtgrenze gelegen. In den schmutzigen Gassen der Vicaria überlappten sich sämtliche kriminellen Einflusssphären und bildeten eine Schnittmenge. Das Viertel war nach dem Palazzo della Vicaria benannt, einem mittelalterlichen Bauwerk, das die Gerichtssäle und im Keller ein berüchtigtes Verlies beherbergte. Die Mauern des Vicaria-Gefängnisses wirkten sehr solide, doch in Wirklichkeit waren sie eine durchlässige Membran, die unentwegt Botschaften, Nahrungsmittel und Waffen

Weitere Kostenlose Bücher