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Omertà - Die ganze Geschichte der Mafia: Camorra, Cosa Nostra und ´Ndrangheta (German Edition)

Omertà - Die ganze Geschichte der Mafia: Camorra, Cosa Nostra und ´Ndrangheta (German Edition)

Titel: Omertà - Die ganze Geschichte der Mafia: Camorra, Cosa Nostra und ´Ndrangheta (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Dickie
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theatralischen, deklamatorischen Stil. Einer von Stellas Standardcharakteren war der »heldenhafte Camorrista alter Schule«, wie ein zeitgenössischer Theaterkenner sich ausdrückte, der »mit seinem unfehlbaren Sinn für Gerechtigkeit gute Taten, Stockhiebe und schöne Reden verteilt«. Stellas Publikum war es herzlich egal, dass es so etwas wie den edlen Camorrista nicht gab und nie gegeben hatte.
    Mafiosi und Camorristi waren schon immer in geradezu narzisstischer Weise vom eigenen Bild fasziniert, wie es sich auf der Bühne, in der Dichtung und im Roman spiegelte. Nichts ist neu an dem wechselseitigen Feedback, das Gangsterkunst und Gangsterleben miteinander verbindet. Die Filmemacher Hollywoods, fasziniert vom Gangstertum, wie auch die Gangsterbosse, die ihre Villen dem Haus in der Schlüsselszene des Films
Scarface
gleichen lassen (ich kenne drei Fälle in Italien), sind die Erben einer Tradition, die so alt ist wie das organisierte Verbrechen selbst. Wie bereits erwähnt, sammelte die Camorra jedes kulturelle Treibgut, dessen sie habhaft werden konnte, und zimmerte sich daraus ihren Mythos von den spanischen Wurzeln. Die Mafia war nicht minder theaterbesessen. Schon der Name »Mafia« war mit großer Sicherheit über ein ungemein erfolgreiches Bühnenstück in sizilianischem Dialekt in die Palermer Alltagssprache gelangt, das 1863 Premiere hatte,
I mafiusi di la Vicaria
(»Die Mafiosi des Vicaria-Gefängnisses« – wobei nicht nur der berüchtigte Kerker in Neapel Vicaria hieß, sondern auch das Ucciardone-Gefängnis in Palermo).
I mafiusi
erzählt die rührselige Geschichte von der Begegnung zwischen den Gefängnis-Camorristi und einem patriotischen Verschwörer in den Jahren vor der Einigung Italiens. In anderen Worten, das Stück, das der Mafia ihren Namen gab, ist ein schauriges Echo von den tatsächlichen Begegnungen zwischen Patrioten und Häftlingen, die eine so wesentliche Rolle spielten in der Geschichte der italienischen Unterwelt. Es heißt, der Autor habe für das Manuskript einen Ehrenmann konsultiert.
    Mafiosi hatten auch eine Schwäche für Abenteuergeschichten. Ihr Lieblingsautor war nicht etwa Alexandre Dumas, wie Oberstaatsanwalt Morena behauptete, sondern der Sizilianer Vincenzo Linares, berühmt für seine Erzählung
I Beati Paoli
, die 1836 erschienen war.
    Die Beati Paoli in Linares’ Roman waren eine mysteriöse Bruderschaft im Palermo des 17 . Jahrhunderts. Sie trafen sich regelmäßig in einem Gewölbe voller Waffen unter einer Kirche an der Piazza San Cosimo. Vor einem Standbild der Göttin Justitia verurteilten sie feierlich jeden zum Tode, der sich an Schwachen und Unschuldigen vergangen hatte.
    Das Märchen war so beliebt in Palermo, dass die Piazza San Cosimo im Jahre 1873 in Piazza Beati Paoli umbenannt wurde. Im April 1909 schließlich entdeckte die Polizei, dass Mafiosi ihre eigenen Tribunale in einem Keller an der Piazza Beati Paoli abhielten – im selben Keller angeblich, der als das Hauptquartier der Geheimgesellschaft in Linares’ Roman identifiziert worden war. Noch später, in den 1980 er Jahren, behaupteten viele sizilianische Ehrenmänner, die sich dem Staat als Kronzeugen zur Verfügung stellten, allen Ernstes vor Gericht, Mafia und Beati Paoli seien ein und dasselbe. Ein klarer Beweis dafür, dass Mafiosi längst an ihre eigene Propaganda glaubten.
    Die laxe Gesellschaft
    In der neuen kriminellen Normalität der 1880 er und 1890 er Jahre hatten pseudowissenschaftliche Kriminologen und opportunistische Theaterexperten kein Monopol auf öffentliche Diskussionen über das Bandenwesen. Einer der ersten Wissenschaftler, die sich ernsthaft mit dem Thema befassten, war Pasquale Villari, ein neapolitanischer Historiker, der an der Universität in Florenz einen Lehrstuhl innehatte.
    Villari setzte sich zeitlebens für eine gute Regierung und gesellschaftlichen Fortschritt im Süden ein. Seine stete Sorge galt dem Elend in der Unterstadt, aus dem die Camorra hervorgegangen war. 1875 machte er mit einem offenen Brief Furore, in dem er schrieb, die Lebensumstände in Neapel seien derart desolat, dass »die Camorra der einzig normale und mögliche Zustand der Stadt sei, die natürliche Form, die sie anstrebe«. Eine der aufschlussreichsten Passagen im Brief war eine Unterredung mit einem ehemaligen stellvertretenden Bürgermeister, der ihm verraten hatte, dass die meisten öffentlichen Bauaufträge nicht ohne Zustimmung der Camorra vergeben würden.
    Villaris Aufruf, Neapel

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