Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Omertà - Die ganze Geschichte der Mafia: Camorra, Cosa Nostra und ´Ndrangheta (German Edition)

Omertà - Die ganze Geschichte der Mafia: Camorra, Cosa Nostra und ´Ndrangheta (German Edition)

Titel: Omertà - Die ganze Geschichte der Mafia: Camorra, Cosa Nostra und ´Ndrangheta (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Dickie
Vom Netzwerk:
verursachte.
    »Das Publikum zeigte großes Interesse an den Ereignissen, die zur Entstehung dieser bösen Sekte in unserer Mitte führten. Reisende hatten sie aus Spanien mitgebracht und das Vicaria-Gefängnis ausgesucht, um dort jenen Geheimbund zu gründen, den einmal jemand, vermutlich in ironischer Absicht, als ›entehrte Gesellschaft‹ bezeichnet hat. Wie dem auch sei, eine Zeitlang jedenfalls war das Vicaria-Gefängnis der Sitz ihres Oberkommandos und ihrer Gerichtsbarkeit.
    Das Theaterstück stellt die ersten Großtaten ihrer Anhänger nach, ihre ersten Gelübde, Erpressungen, ritualisierten Messerkämpfe sowie ihr wildes Bestreben, sich mit ihren Regeln Geltung zu verschaffen. Ihr als Heldenmut getarntes Verbrechertum sollte die Schwachen einschüchtern und ängstigen. Die zweite Vorstellung findet heute Abend statt.«
    Das Stück
La fondazione della Camorra
(»Die Gründung der Camorra«) hätte einem der kriminologischen Lehrbücher über die Ehrenwerte Gesellschaft entstammen können.
    Das Publikum, das von dem Schauspiel gefesselt war, war besonders kenntnisreich. Das Stück wurde nämlich im Theater San Ferdinando aufgeführt, nur wenige Meter von dem berüchtigten Vicaria-Gefängnis entfernt, in dem die Handlung spielte. Bei jeder Vorstellung war das Spektakel im Zuschauerraum genauso farbenfroh wie alles, was sich auf der Bühne abspielte. Und ebenso laut: Unentwegt hörte man Geschnatter, Buhrufe und angestimmte Lieder. Im Parkett, unter einem Dauerregen aus Orangenschalen und Samenhülsen, zankten tintenverschmierte Schriftsetzer mit rußgeschwärzten Eisenbahnern, tauschten stillende Mütter sich mit fetten Huren über den neuesten Klatsch aus. Weiter oben, in den wackeligen Logen, saßen jene, die im Vicaria-Viertel der Mittelschicht angehörten: gescheite, aber arme Schullehrer, oder Pfandleiher mit ihren Frauen und Kindern, üppig herausgeputzt mit den nicht ausgelösten Pfändern. Hier im San Ferdinando drängte sich auf engstem Raum das unvorstellbar pralle Leben des Vicaria-Viertels. So nimmt es nicht wunder, dass auch Camorristi unter den Zuschauern waren, als
La fondazione della Camorra
aufgeführt wurde.
    Es kamen in der Tat so viele, dass das Stück die Gesetzeshüter auf den Plan rief. Am 4 . November schrieb der Inspektor vor Ort an den Polizeichef, um ihm seine Besorgnis mitzuteilen.
    »Wenn man bedenkt, dass besagtes Theater ausschließlich von Mitgliedern der Unterwelt mit ellenlangen Vorstrafenregistern frequentiert wird, ist das Stück, das derzeit dort gegeben wird, doch eine einzige große Lektion in der Schule des Verbrechens.«
    Was ihm Sorgen bereitete, war die gefährlich zweideutige Botschaft des Stücks. Natürlich nahm es ein glückliches und sittlich lehrreiches Ende wie alle Darbietungen im Theater San Ferdinando. Allerdings schien sich das Publikum doch weitaus mehr für das
Davor
zu interessieren: das angeberische Gehabe der Kriminellen, in dem sich die eigenen verzerrten Werte spiegelten. Schlimmer noch, manche Passagen im Stück waren die reinste Propaganda für die Ehrenwerte Gesellschaft. Der Brief des Polizeiinspektors zitiert aus einer anstößigen Rede, die der
capo
auf der Bühne hält:
    »Unsere Herrscher agieren im Großen wie Camorristi. Was ist falsch daran, wenn das Volk es ihnen im Kleinen gleichtut?«
    Unsinn natürlich; aber eben verlockender Unsinn.
    Melodramen für die ungebärdigen Kerle im San Ferdinando wurden in schwindelerregendem Tempo ausgespuckt. Edoardo Minichini, der Verfasser des Dramas
Fondazione della Camorra
, soll etwa 400  Stücke geschrieben haben; er starb verarmt, hinterließ eine Frau und zehn Kinder, die nun auf sich allein gestellt waren. (Die Tatsache, dass die Camorra von den Theatern Schutzgelder kassierte, dürfte vermutlich sein finanzielles Desaster erklären.) In vielen Stücken Minichinis waren die Protagonisten Camorristi. Dramen wie diese waren im Neapel der 1890 er Jahre
en vogue
. Titel wie
Der Boss der Camorra
( 1893 ) und
Blut eines Kamorristen
( 1894 ) lockten ein großes, begeistertes Publikum aus seinen Behausungen. Diese Stücke waren tatsächlich nur die aktuellsten Symptome einer Camorrafolklore. Seit den 1860 er Jahren hatten Sänger, Geschichtenerzähler und Puppenspieler das einfache Volk mit verlogenen Märchen von der Ehre und Verwegenheit der Camorristi in Atem gehalten.
    Der Star der San-Ferdinando-Bühne, ein Schauspieler mit dem passenden Namen Federigo Stella, mimte stets den Guten in einem

Weitere Kostenlose Bücher