Omertà - Die ganze Geschichte der Mafia: Camorra, Cosa Nostra und ´Ndrangheta (German Edition)
besseren Ansatzpunkt für das Problem entdeckt zu haben. Und zur damaligen Zeit war die Soziologie größtenteils positivistisch – die Vertreter des Positivismus träumten davon, die Grundsätze der Naturwissenschaft auf die Gesellschaft anzuwenden. Streng wissenschaftlich betrachtet, so die Positivisten, seien Gesetzesbrecher Geschöpfe aus Fleisch und Blut, menschliche Tiere, die es zu beobachten, aufzuspießen, zu wiegen, zu messen, zu fotografieren und zu katalogisieren gelte. Wenn es der Wissenschaft gelänge, »geborene Verbrecher« anhand bestimmter Körpermerkmale zu identifizieren, so könnte sie die Gesellschaft vor ihnen schützen – ungeachtet dessen, was irgendwelche Rechtsverdreher daherplapperten.
Der optimistischste und zugleich berüchtigtste Versuch, männliche wie weibliche »Delinquenten« nach ihrem physischen Erscheinungsbild zu identifizieren, wurde von dem Turiner Arzt Cesare Lombroso unternommen. Er gab an, gewisse Anomalien an den Körpern Krimineller erkannt zu haben, wie etwa abstehende Ohren oder ein wuchtiges Kinn. Solche »Stigmata«, wie er sie nannte, seien der Beweis, dass Kriminelle tatsächlich einer früheren Stufe der menschlichen Entwicklung zuzuordnen seien, auf der Evolutionsleiter irgendwo zwischen den Menschenaffen und den Negern. Lombroso gelang mit dieser Theorie eine glanzvolle Karriere, und er verteidigte sie hartnäckig, selbst als andere Soziologen nachwiesen, dass sie Unsinn war.
Lombroso war nicht der einzige Akademiker, der die Wissenschaft für geeignet hielt, das Problem der Kriminalität zu entschlüsseln. Andere suchten Zusammenhänge in Faktoren wie der Ernährung, der Überbevölkerung, dem Wetter und natürlich der Rasse. Süditaliener und Sizilianer schienen aus anderem Holz geschnitzt zu sein als andere Europäer, wenn nicht physisch, so zumindest psychisch. 1898 kommentierte der gefeierte junge Soziologe Alfredo Niceforo das Selbstbild der Mafia abfällig, indem er argumentierte, die sizilianische Psyche und die Mafia seien ein und dasselbe.
»In vielerlei Hinsicht ist der Sizilianer ein echter Araber: stolz, oft grausam, kraftvoll und unbeugsam. Daher die Tatsache, dass der Sizilianer sich von niemandem Befehle erteilen lässt. Und daher auch die Tatsache, dass der sarazenische Stolz, vermählt mit feudalem Machtstreben, aus dem Sizilianer einen Menschen geformt hat, durch dessen Adern stets die rebellische, ungezügelte Leidenschaft seines Egos fließt: den Mafioso
,
um es kurz zu sagen.«
Die Neapolitaner erschienen in Niceforos Forschung in einem nicht minder ungeschönten Licht: Sie seien »leichtfertig, launisch und rastlos« – genau wie die Weiber. Doch die Camorra unterscheide sich von den neapolitanischen »Weibsleuten«, unter denen sie lebe. Immerhin war man sich einig darüber, dass die Camorra, im Unterschied zur Mafia, ein Geheimbund sei. Ihre unheimlichen Rituale, ihre Duelle sowie die komplizierte symbolische Sprache, mit der
picciotti
ihren
capo camorrista
anredeten, zeigten, dass die Camorra nichts Geringeres sei als ein wilder Clan, mit den Stämmen Zentralafrikas zu vergleichen, wie Livingstone oder Stanley sie beschrieben hätten.
Die Tätowierungen der Camorristi hatten es »Wissenschaftlern« wie Lombroso und Niceforo besonders angetan. Jeder wusste, dass Camorristi sich die Namen der Prostituierten, die sie beschützten, die Racheschwüre, die sie einhalten wollten, und auch die Symbole ihres kriminellen Rangs in die Haut zu ritzen pflegten. Diese Tätowierungen dienten einem doppelten Zweck: Sie waren Zeichen der Loyalität gegenüber der Ehrenwerten Gesellschaft und sollten zudem einschüchternd wirken. Wie ihre exzentrische Kleidung verraten uns auch die Tätowierungen der frühen Camorristi eine Menge über das Wesen und die Grenzen der Camorramacht. Zu einer Zeit, da die Ehrenwerte Gesellschaft an Orten verwurzelt war, in denen der Staat sich selten die Mühe machte, seiner Autorität Geltung zu verschaffen – im Gefängnis oder innerhalb des vom Pöbel bevölkerten Labyrinths im Stadtkern von Neapel –, war es ohne Belang, dass diese körperlichen Piktogramme auch von der Gefängnisleitung und der Polizei entziffert werden konnten. Dergleichen Zusammenhänge entgingen freilich den Kriminologen, die diese Tätowierungen nur für weitere körperliche Symptome der Degeneriertheit hielten.
Die positivistische Kriminologie wurde zur Modeerscheinung. Unter dem Deckmantel wissenschaftlicher Forschung leistete sie dem
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