Omertà - Die ganze Geschichte der Mafia: Camorra, Cosa Nostra und ´Ndrangheta (German Edition)
hatte, nicht als lärmscheu erweisen würde, oder als zu schwach, um die Hügel der Stadt zu bewältigen. Niemand mit Ausnahme der Camorristi. Für einen gewissen Anteil vom Kaufpreis sorgten sie dafür – unter Androhung von Prügeln oder Schlimmerem –, dass die Geschäftsabschlüsse glatt verliefen. Die Camorra kontrollierte auch den Vorrat an Pferdefutter: Viele Bosse, auch Ciccio Cappuccio
,
handelten zusätzlich mit Kleie und Johannisbrot. Von diesem Sockel aus hatten sie das gesamte abgerissene Heer von Droschkenkutschern in Neapel unter Kontrolle.
Ciccio Cappuccio, »der junge Herr«, starb Anfang Dezember 1892 eines natürlichen Todes. Sein Ableben sollte in verstörender Weise verdeutlichen, wie sehr das laxe Gefüge der neapolitanischen Gesellschaft von Gesetzlosigkeit durchdrungen war. Sangiorgi im Polizeipräsidium konnte nur hilflos zusehen.
Der Nachruf für Ciccio Cappuccio im
Mattino
, einer wichtigen neuen neapolitanischen Tageszeitung, war voll des Lobs. Er habe Unrecht in Recht verwandelt und sei ein Friedensrichter für das Volk gewesen. Mit einer Aufwallung von Stolz erinnerte
Il Mattino
an die Zeit, da »der junge Herr« bei einer Messerstecherei im Gefängnis nicht weniger als zwölf kalabrische Camorristi zu Boden gestreckt habe. Es sei jedoch falsch, ihn einen »blutrünstigen Verbrecher« zu nennen, hieß es weiter:
»Er war außergewöhnlich sympathisch: ein Muster an Anstand, Ehrerbietung und Rücksichtnahme. Seine grauen Augen blickten grimmig. Doch war er stets bemüht, den Eindruck, den er machte, zu mäßigen, indem er die Freundlichkeit und Fügsamkeit eines Mannes an den Tag legte, der um die eigene Stärke weiß – eines Mannes, der gewiss sein darf, dass niemand auf der Welt sich seinem Willen widersetzen kann.«
Offensichtlich war es nicht nur das Lumpenproletariat des Vicaria-Viertels, das den Mythos vom edlen Camorrista alter Schule pflegte.
Il Mattino
war, wie sein berüchtigter Herausgeber Edoardo Scarfoglio, geradezu hysterisch rechts und von Grund auf korrupt – das Sprachrohr der übelsten Elemente in der politischen Klasse Neapels. Gleichermaßen erschreckend wie enthüllend an seiner Stellungnahme zum Tod Ciccio Cappuccios aber war die Art und Weise, wie er die privaten Kleinstaaten, die die Bosse der Camorra in großen Bereichen der Stadt errichtet hatten, nicht nur duldete, sondern geradezu begrüßte.
Ciccio Cappuccios letzte Reise war ein Staatsbegräbnis. Sechs Pferde zogen einen prunkvollen Leichenwagen, über und über mit Kränzen bedeckt, durch die halbe Stadt. Der Trauerzug wurde von sämtlichen Kutschern Neapels angeführt, eine Prozession aus 60 Droschken. Ihnen folgte ein Heer ehrfürchtiger Anhänger, die laut Aussage des
Mattino
allesamt Geschichten von den »heroischen und edelmütigen Taten« des Toten zu erzählen wussten. Die Zeitung veröffentlichte sogar ein poetisches Klagelied zu Ehren Ciccio Cappuccios:
»Wer wird uns nun beschützen?
Was sollen wir ohne ihn tun?
An wen uns wenden,
Wenn uns Unrecht geschieht?«
Neapel war noch immer eine Stadt, in der Gesetzestreue und Ehrlichkeit in öffentlichen Angelegenheiten völlig unbekannte Konzepte zu sein schienen.
Einige Monate nach Cappuccios posthumer Machtdemonstration geriet Sangiorgi in einen Aufruhr, der für einen Augenblick die verdrehten Gedärme der laxen Gesellschaft bloßlegte. Der berüchtigte Droschkenkutscherstreik im August 1893 erwies sich für den entschlossenen Polizeipräsidenten, trotz seines »ausgeprägten Spürsinns«, als eine Zerreißprobe. Zum ersten Mal seit Jahrzehnten stürmte die Camorra in großer Zahl die Straßen.
Die Einzelheiten des Vorfalls sind schnell erzählt. Der Zorn der Droschkenkutscher hatte sich an dem Vorhaben der Stadt entzündet, das Straßenbahnnetz auszuweiten. So riefen am 22 . August 3000 Kutscher zu einem heftigen Straßenprotest auf, der zeitlich mit patriotischen Kundgebungen anlässlich der Ermordung einiger italienischer Arbeiter in Südfrankreich zusammenfiel. Schon bald schlossen sich ihnen Sozialisten, Anarchisten und ein hungriger Pöbel aus der Unterstadt an. Sangiorgi lag mit heftigem Fieber im Bett, als der Tumult losbrach. In seiner Abwesenheit hatte ein Trupp Beamter auf der Jagd nach Unruhestiftern Gäste des Gambrinus angegriffen – des berühmtesten Cafés der Stadt. Sangiorgi schleppte sich tags darauf an seinen Schreibtisch zurück und musste feststellen, dass die Polizei zur Zielscheibe einer wütenden Menge
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