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Omertà - Die ganze Geschichte der Mafia: Camorra, Cosa Nostra und ´Ndrangheta (German Edition)

Omertà - Die ganze Geschichte der Mafia: Camorra, Cosa Nostra und ´Ndrangheta (German Edition)

Titel: Omertà - Die ganze Geschichte der Mafia: Camorra, Cosa Nostra und ´Ndrangheta (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Dickie
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nach Beendigung des Streiks nach Venedig versetzt. Die Unruhen im August 1893 gehörten zu den schlimmsten Erfahrungen seiner beruflichen Laufbahn, doch nahm er weit mehr Schuld an dem Chaos auf sich, als ihn tatsächlich traf.
     
    Unterdessen regierte im letzten Viertel des 19 . Jahrhunderts der Pöbel in den vielen Gefängnissen, Justizvollzugsanstalten und Strafkolonien der Halbinsel ungeniert weiter. Eine einschneidende Reform, die dem organisierten Verbrechen das Wasser abgegraben hätte, wäre die gründliche Überprüfung der Gefängnisse gewesen. Doch die Gesetzeshüter scherten sich wenig um die Gefängnisaktivitäten von Mafia und Camorra, mit Ausnahme einer Begebenheit Ende der 1870 er Jahre: Infolge des Mordes an einem Polizeispitzel in Neapel, der vom Gefängnis aus in Auftrag gegeben worden war, wurden 53 inhaftierte Camorristi für schuldig befunden, eine seltene Investition wertvoller institutioneller Ressourcen, um dieses chronische Problem zu lösen.
    Offensichtlich beherbergten die Gefängnisse noch immer ein dichtes Ganovennetzwerk. 1893 veröffentlichte ein positivistisch gesinnter Kriminologe die
Geschichte eines geborenen Verbrechers
, die Autobiographie eines hochrangigen Gefängnis-Camorrista, der nur als Antonino M bekannt war. Antonino M berichtete darin von derben Schlägereien zwischen Gefängnisinsassen, an denen er beteiligt gewesen war. In einem Fall hatten Neapolitaner und Sizilianer gegen Kalabresen und Abruzzesen Krieg geführt: Viele Häftlinge waren dabei ums Leben gekommen, und ein Wärter hatte am Ende die eigenen Gedärme in Händen.
    Dennoch ist es eher die Einigkeit der Gefängnissekte als ihre Uneinigkeit, die in Antonino Ms Schilderung deutlich wird. Er habe mit Kennwörtern seine Camorrazugehörigkeit bewiesen, schreibt er, wenn er (üblicherweise gewalttätiger Ausbrüche wegen) von einem Gefängnis zum nächsten verlegt worden sei. Sein Status sei in allen Strafanstalten in gebührender Weise respektiert worden: in Apulien und den Marken ebenso wie im Castello del Carmine in Neapel (dasselbe Gefängnis, in dem Herzog Castromediano 1851 in Eisen gelegt worden war). Es war nicht die einzige Art und Weise, wie Camorristi in unterschiedlichen Regionen miteinander Kontakt hielten: So konnte beispielsweise ein Urteil, das in einem Gefängnis in Cosenza im nördlichen Kalabrien gefällt worden war, in der Strafkolonie auf Favignana vollstreckt werden, einer Insel vor der Westküste Siziliens.
    Es gab noch weitere Indizien für den Ursprung von Antonino Ms Geschichten. Was Herzog Castromediano bereits in den 1850 er Jahren beobachtet hatte, war in Italiens Gefängnissen demnach noch immer an der Tagesordnung: organisierte Gewalt und Blutfehden; Bestechung, Erpressung, Schmuggel sowie der Handel mit Gefälligkeiten; Initiationsriten und Messerkämpfe sowie die Unterweisung in den Fertigkeiten und Gepflogenheiten der Geheimgesellschaft. Doch zogen Informationen dieser Art anstelle von Reformen nur politische Fehlentscheidungen nach sich, die zudem einem deprimierend gleichbleibenden Muster folgten. Gelegentlich wurden nach einer besonders blutigen Gefängnisrevolte oder einem ungewöhnlich alarmierenden Regierungsbericht hitzige Rufe nach Veränderung laut. Allerdings pflegten diese Rufe meist ungehört zu verhallen: Der Mangel an finanziellen Mitteln und die schiere politische Irrelevanz der Gefängnisthematik hatten zur Folge, dass Italiens laxe Gesellschaft sich nicht dazu aufraffen konnte, das Problem anzugehen.
    Bald würde Italien einen hohen Preis zahlen für seine Unfähigkeit, die Gefängnisse zu reformieren. Der Kriminologe, der die Autobiographie Antonino Ms veröffentlicht hatte, unterzog den Camorrista auch einer sorgfältigen körperlichen Untersuchung. Das Ergebnis überrascht nicht: Antonino M sei der geborene Verbrecher, eine Mischung aus »wild, epileptisch und moralisch krank«. Er weise eine Reihe verräterischer körperlicher Missbildungen auf, so der Kriminologe, zum Beispiel Segelohren, große Hoden und langsame Pupillenreflexe. Außerdem sei er tätowiert. Quer über der Brust trage er den Schlachtruf » NIEDER MIT DEM EHRLOSEN PACK «. Was ihn jedoch endgültig zum Verbrecher stemple, sei der typische breite, flache Schädel – seine Brachyzephalie, um den wissenschaftlichen Begriff zu verwenden. Antonino M sei nämlich Kalabrier, erklärte der Kriminologe; und der typische Kalabrier sei dolichozephalisch, besitze einen langen, schmalen Schädel.

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