Omertà - Die ganze Geschichte der Mafia: Camorra, Cosa Nostra und ´Ndrangheta (German Edition)
geworden war: Aufständische und Ordnungskräfte lieferten sich erbitterte Straßenkämpfe. Ein Carabiniere verteidigte eine Trambahn gegen den Pöbel und schoss dabei dem achtjährigen Nunzio Dematteis in die Stirn. In Windeseile hatte sich die Nachricht herumgesprochen, dass die Polizei den Tod des Jungen verschuldet hatte. Die Menge hob dessen blutige Leiche empor und zog damit vor die Präfektur. Sangiorgis Beamte stellten sich den Leuten in den Weg, und ein groteskes Tauziehen um den Toten begann. Einige Parlamentarier forderten, die Polizei solle ihre »provozierende Präsenz« aus den Straßen entfernen. Das Militär musste anrücken, um die Ruhe wiederherzustellen.
Bislang ist wenig an den Ereignissen im August 1893 ausgesprochen neapolitanisch, mit Ausnahme vielleicht des stümperhaften Polizeieinsatzes. Trambahnen stellten für die Droschkenkutscher der damaligen Zeit eine verständliche Bedrohung dar. Daher hätte sich ein ähnlicher Arbeitskampf in jeder Großstadt Europas zutragen können, wo die Polizei vermutlich ebenfalls aggressiv durchgegriffen hätte. In Neapel allerdings waren viele Camorristi unter den Kutschern. Schließlich handelte es sich um dieselben Männer, die wenige Monate zuvor Cappuccios Sarg begleitet hatten. Sangiorgis Polizei fand heraus, dass der Aufstand vom August 1893 in der Nacht davor geplant worden war, bei einer Zusammenkunft von Mitgliedern der Camorra und Anarchisten. Der Polizeipräsident erstellte eine Liste von mehreren hundert Kutschern, die sich an den Unruhen beteiligt hatten, und identifizierte viele von ihnen als Camorristi und als vorbestraft.
Und wenn die Camorra beteiligt war, galt dies auch für ihre einflussreichen Freunde. Straßenganoven mögen den Streik zwar arrangiert haben, doch die eigentlichen Drahtzieher waren lokale Politiker. Diese hatten der Zentralregierung in Rom zweierlei vorzuwerfen: zum einen das Vorhaben, den Auftrag zur Ausweitung des Straßenbahnnetzes ausgerechnet einem belgischen Unternehmen abzutreten; zum zweiten die Drohung, den Neapolitanern die Kontrolle über das Sanierungsprogramm entziehen zu wollen, das nach der Choleraepidemie von 1884 angelaufen war. Ein Untergebener Sangiorgis berichtete später, die Ursachen des Aufstands hätten in »der großen Interessensverlagerung« gelegen, die »das Ausweiden« verursacht habe. Indem sie in Neapels Straßen Anarchie stifteten, erhofften sich die Interessengruppen um das Rathaus und die Bauindustrie staatliche Konzessionen von Rom.
In den darauffolgenden Tagen wurde der Streik mit einer Kombination aus Verhandlung und Täuschung abgewürgt. Zunächst die Verhandlung: Die Droschkenkutscher wurden zu Gesprächen mit dem Stadtrat eingeladen. Dann, vermutlich auf Geheiß des Innenministeriums, und »um zur Lösung des Disputs beizutragen«, wie Sangiorgi es ausdrückte, ließ dieser die Kutscher frei, die verhaftet worden waren –
mit Ausnahme
der Vorbestraften. Ein Politiker namens Alberto Casale, den die Camorra unterstützte, fungierte bei den Gesprächen als Mittelsmann; aller Wahrscheinlichkeit nach war Casale einer der Männer, die die Unruhen angestiftet hatten. So einigte man sich schließlich auf folgende Zugeständnisse: Der Fahrplan der Straßenbahnen sollte eingeschränkt und das Schienennetz nicht ausgebaut werden.
Die Täuschung folgte auf dem Fuß: Wenige Wochen später wurde die Vereinbarung aufgehoben und das ursprüngliche Projekt, der Ausbau des Schienennetzes, weiterverfolgt. Wie sich später herausstellte, hatte Alberto Casale von der belgischen Straßenbahngesellschaft ein deftiges Schmiergeld entgegengenommen. Auch seine bevorzugten Camorristi erhielten ihren Anteil – zumindest dürfen wir dergleichen vermuten, da der Protest der Droschkenkutscher, trotz dieser arglistigen Täuschung, nicht erneut aufgeflammt war. Noch dazu hielt der Stadtrat einen Großteil der Gelder für die Stadtsanierung zurück. Die Machenschaften hinter den Kulissen des Droschkenkutscherstreiks zeigten, wie Turiello argumentiert hatte, dass die Camorra und die politischen Interessengruppen an zwei unterschiedlichen Enden derselben Gefälligkeitenbörse agierten. Die laxe Gesellschaft war also zugleich eine verschlagene Gesellschaft.
Als der Disput schließlich beigelegt war, hatte Sangiorgi Neapel verlassen. Die katastrophale Art und Weise, wie der Protest der Droschkenkutscher gehandhabt worden war, führte zu einer Säuberung im Polizeipräsidium. Sangiorgi wurde bereits zwei Wochen
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