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Omertà - Die ganze Geschichte der Mafia: Camorra, Cosa Nostra und ´Ndrangheta (German Edition)

Omertà - Die ganze Geschichte der Mafia: Camorra, Cosa Nostra und ´Ndrangheta (German Edition)

Titel: Omertà - Die ganze Geschichte der Mafia: Camorra, Cosa Nostra und ´Ndrangheta (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Dickie
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gewalttätiges Geschäft war. Vielerorts beanspruchten der Bürgermeister und seine Verwandtschaft Gemeindeland für sich selbst oder handelten mit Holz, das sie aus dem Gemeindewald stahlen. Förster, die versuchten, dem Gesetz Geltung zu verschaffen, »liefen ernsthaft Gefahr, sich eine Kugel einzufangen«. Sogenannte »Getreidebanken«, gegründet, um den Armen zur Pflanzzeit Saatgetreide und Geld zu sichern, dienten oft nur als bequeme Kreditquellen für die Reichen. Wie anderswo in Süditalien und Sizilien tolerierte die Regierung in Rom solchen Missbrauch, weil die korrupten Bürgermeister in Kalabrien Wählerstimmen für die herrschenden staatlichen Gruppierungen aufbrachten. Kalabrien war eine der laxesten Gegenden der laxen Gesellschaft.
    Weniger Sorgen bereitete Franchetti allerdings das organisierte Verbrechen. In den 1860 er und 1870 er Jahren, als umfassende Beweise das erschreckende Ausmaß der Macht von Mafia und Camorra bestätigten, machte das Bandenwesen in Kalabrien nur sporadisch von sich reden. Noch ließ nichts darauf schließen, dass das südliche Kalabrien zum Lehen der Ganoven werden und mit Sizilien und Kampanien gleichziehen würde. Nicht ein einziges Schriftstück aus den 1860 er und 1870 er Jahren – kein Regierungsdokument, keine Reiseerzählung, nicht einmal die verblasste Erinnerung eines Einheimischen – lässt auf die beharrliche Präsenz einer starken Mafia in der Gegend schließen. Die Region hatte viele Probleme, doch kriminelle Bruderschaften gehörten nicht dazu.
    Um die Mitte der 1880 er Jahre gab es in Kalabrien schließlich einige Anzeichen für eine bessere Zukunft. Mittlerweile schnauften Züge auf einer eingleisigen Strecke entlang der ionischen Küste nach Reggio; die Strecke an der tyrrhenischen Küste war noch im Bau begriffen. Doch just in diesem historischen Moment schildern die ersten offiziellen Berichte, dass »eine Gruppe Mafiosi und Camorristi« in Reggio Calabria ihr Unwesen treibe und »kriminelle Vereinigungen der Maffia« auch anderswo im Schatten des Aspromonte gediehen. Wie aus dem Nichts war hier eine neue kriminelle Sekte aufgetaucht. Bis zum Ende der 1880 er Jahre erlebten die Provinz Reggio Calabria und einige angrenzende Regionen der Provinz Catanzaro eine explosionsartige Ausbreitung des Bandenwesens, von der sie sich nie mehr erholen sollten.
    Mafiosi und Camorristi: Die frühesten Bezeichnungen waren aus Sizilien und Neapel geborgt. Bald würde man andere Namen verwenden: »kalabrische Mafia«, »Ehrenwerte Gesellschaft«, »Vereinigung der Camorristi« und so weiter. Doch während Polizei und Justiz ihre Kenntnisse über diese neue Gefahr für die öffentliche Ordnung im Süden Kalabriens erweiterten, sprachen sie zumeist von der »
Picciotteria
«. Die Herkunft des Wortes ist kein Geheimnis.
Picciotto
war ein süditalienisches oder sizilianisches Dialektwort für ›Bursche‹.
Picciotti
hießen aber auch die Mitglieder auf den unteren Rängen der neapolitanischen Camorra. Der Begriff weist zudem auf das überhebliche Imponiergehabe von Halbwüchsigen.
    Die
picciotti
waren ein primitiver Haufen: Ziegenhirten und Dudelsackpfeifer zumeist, Männer, deren hochfliegendste Ziele aus einer Flasche Wein und einem Stück Ziegenfleisch bestanden. Als die
Picciotteria
zum ersten Mal in Erscheinung trat, beschrieb der große sizilianische Schriftsteller Giovanni Verga das Leben dieser armen Leute in einigen der bedeutendsten Prosawerke in italienischer Sprache. Verga wusste, dass er seiner bürgerlichen Leserschaft allerhand abverlangte, indem er sie zwang, den imaginären Sprung in das geistige Universum der Bauern zu wagen. »Wir müssen uns ebenso klein machen wie sie«, meinte Verga. »Wir müssen den Horizont zwischen zwei Erdklumpen einschließen und die kleinen Umstände, die kleine Herzen schlagen lassen, durch das Mikroskop betrachten.«
    Unsere Vorstellungskraft heute muss einen ähnlichen Sprung bewerkstelligen. Allerdings können wir uns die Herablassung gegen die »kleinen Herzen« der Landarbeiter und Holzfäller sparen, die Mitglieder der
Picciotteria
wurden. Denn diese bescheidenen Leute waren die unmittelbaren Vorfahren einer furchterregenden kriminellen Vereinigung in Kalabrien, deren endgültiger Name, ’Ndrangheta, zum ersten Mal in den 1950 er Jahren auftauchen würde. Sie ist Italiens dritte und mittlerweile reichste und geheimste Mafiaorganisation, die äußerst erfolgreich ihre bösartigen Metastasen auf dem gesamten Globus

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