One Night Wonder
abschließt. Jule ist eher der Schöngeist von uns beiden und hat zunächst zur Kunstgeschichte tendiert. Aber als sie bei einer Studienberatung erfuhr, dass die Architektur einen Großteil der Kunstgeschichte ausmacht, hat sie sich mir kurzerhand angeschlossen. Man kann sich vorstellen, dass unsere Eltern zunächst skeptisch waren. Beste Freundinnen, die dasselbe studieren … ob dabei etwas Vernünftiges herauskommt? Doch mittlerweile haben die skeptischen Fragen aufgehört. Als zukünftige Architektinnen schlagen wir uns ganz erfolgreich durch den Universitätsdschungel. Auch wenn wir vermutlich nebeneinander ein wenig seltsam erscheinen: Jule wirkt wie ein wohlgeratenes Mädchen aus gutem Düsseldorfer Hause, was sie auch ist. Ich trage nur Schwarz und leuchtend magentarote Haare, habe also einen leicht exzentrischen Touch. Doch diese Äußerlichkeiten ändern nichts an unserer Zuneigung, die meisten hier wissen ja gar nicht, dass Jule auch mal eine Schwarz-Phase hatte. Sie trug damals sogar rosafarbene Haare! Mittlerweile ist sie aber auf den Pfad der Tugend zurückgekehrt.
Das Ende der Vorlesung bedeutet auch das Ende des Uni-Tages. Für heute haben wir frei. Beim Verlassen des Hörsaals drückt Jule noch mal aufmunternd meinen Arm.
»Wenn dir danach ist, ruf ihn an. Ansonsten verstaue das Zeug einfach im Keller.«
Ich nicke dankbar.
»Wir sehen uns morgen, Süße.« Sie küsst mich herzhaft auf die Wange, dann verschwindet sie Richtung Parkplätze. Eigentlich könnte Madame auch nach Hause laufen oder eine Station mit der Straßenbahn fahren, so nah ist das elterliche Haus an der Uni, aber Jule reist rigoros mit ihrem kleinen Flitzer an. Wenn man sie damit aufzieht, wird sie zickig. Sie sagt, sie hat eine Allergie gegen öffentliche Verkehrsmittel. Was sie allerdings davon abhält, die zehn Minuten zu laufen, hat sich mir bei dieser These noch nicht erschlossen.
Ich selbst besitze eine eigene Wohnung in einem kleinen Ort zwischen Düsseldorf und Köln, da mich die innerstädtischen Mieten entweder in ein abstellkammergroßes Apartment oder in den finanziellen Ruin getrieben hätten. Ich bekomme Geld von meinen Eltern, und sie bezahlen auch die Versicherung für mein altes Auto, das ich von Oma und Opa zum Bestehen des Führerscheins geschenkt bekommen habe. Und zwei- oder dreimal in der Woche arbeite ich als Aushilfe in einer Modeboutique. Zusammen reicht das Geld für die anfallenden Kosten und ein wenig Schnickschnack, ohne den Frauen nicht leben können, auch wenn dann am Ende des Monats meist nichts übrig ist.
Ich erspare mir den Nervenkrieg, an der Düsseldorfer Universität einen Parkplatz zu suchen, und fahre lieber mit meinem Studi-Ticket eine halbe Stunde Zug. Die Reise nach Hause verläuft ereignislos, in Gedanken bin ich immer noch bei den Grundrissen von St. Peter. Von der Haltestelle des Regionalexpresses aus muss ich nur noch zwei Straßen überqueren, und schon bin ich zu Hause. Das Sieben-Parteien-Haus liegt in einer Einbahnstraße, die zusätzlich noch verkehrsberuhigt ist. Hier spielen Kinder auf der Fahrbahn, Spielzeug liegt in den Vorgärten, und die Gehwege sind mit bunter Kreide bemalt. Ich mag Kinder, deswegen macht es mir auch nichts aus, dass von morgens bis abends gelacht, gekreischt und lautstark gespielt wird.
Mein eigenes Reich besteht aus gut geschnittenen zweieinhalb Zimmern mit Balkon auf circa fünfzig Quadratmetern Wohnfläche. Ich habe soeben die Tür aufgeschlossen, da vibriert mein Handy. Sofort denke ich an Mark. Doch er ist es nicht. Das Display signalisiert »Trudi Handy«.
»Hallo, Trudi!«, zwitschere ich und lasse meine schwere Tasche vom Arm auf den Fußboden aus hellem Laminat gleiten.
»Lilly!« Trudi hört sich immer abgehetzt an, egal, ob sie Dauerlauf macht oder gerade entspannt aus der Sauna kommt. »Sag mal, hast du die Aufgaben für morgen schon gemacht?«
»Du meinst Bauphysik?«
»Ja!« Jetzt klingt Trudi noch gehetzter.
»Nö, wollte ich gleich.«
»Oh okay, so ein Mist. Ich hab den Zettel verloren!«
»Den mit den Aufgaben?«
»Ja!« Mittlerweile überschlägt sich ihre Stimme.
Ich überlege kurz. »Ich kann sie dir abschreiben und per Mail schicken.«
»Oh, das wäre super!«
»Kein Problem.«
»Danke!«
Ich lege kopfschüttelnd das Handy auf einen kleinen Beistelltisch im Flur und ziehe mir Jacke und Schuhe aus. Trudi heißt mit vollständigem Namen Gertrud, was sie nicht nur als Strafe, sondern auch als persönliche Beleidigung
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