Onkel Toms Hütte
dasselbe gedacht, aber er antwortete nachlässig:
»Ich werde schon Vorkehrungen treffen.«
»Wann?« fragte Miß Ophelia.
»Oh, eines Tages.«
»Und wenn du vorher stirbst?«
»Kusine, was ist denn los?« sagte St. Clare, seine Zeitung sinken lassend, und sah sie an. »Zeig ich denn schon Symptome des gelben Fiebers oder der Cholera, daß du mit solchem Eifer meine letztwilligen Verfügungen betreibst?«
»Mitten im Leben stehen wir im Tode«, antwortete Miß Ophelia.
St. Clare stand auf und legte die Zeitung hin, achtlos trat er unter die offene Verandatür, um die Unterhaltung abzubrechen, die ihm nicht angenehm war. Mechanisch wiederholte er das letzte Wort – »im Tode!« –, und als er sich gegen das Geländer lehnte und das Funkeln der Wasser des Springbrunnens sah und wie hinter Schleiern die Blumen, Bäume und Vasen im Hof wahrnahm, wiederholte er das geheimnisvolle Wort abermals, das jedem Munde so geläufig und doch von so furchtbarer Gewalt ist – »im Tode!«
»Merkwürdig, daß es solch ein Wort gibt«, sagte er, »und solch ein Ding, und es wird immer vergessen, daß man an einem Tag noch lebendig, warm und schön, voller Hoffnungen, Wünsche und Verlangen und schon am nächsten Tag für immer dahin ist!«
Es war ein warmer schöner Abend; als er hinüberschritt zum andern Ende der Veranda, sah er dort Tom andächtig in der Bibel lesen, sein Finger rutschte mühelos von einem Wort zum andern, während seine Lippen jedes einzelne ernsthaft nachsprachen.
»Soll ich dir vorlesen, Tom?« fragte St. Clare und nahm neben ihm Platz.
»Wenn der gnädige Herr so gütig ist«, sagte Tom dankbar. »Dann wird es mir viel klarer.«
St. Clare nahm das Buch, überflog die Stelle, und begann mit einem Absatz, den Tom mit dicken Strichen umrandet hatte. Er lautete:
»Wenn aber des Menschen Sohn kommen wird in seiner Herrlichkeit und alle heiligen Engel mit ihm, dann wird er sitzen auf dem Stuhl seiner Herrlichkeit, und werden vor ihm alle Völker versammelt werden. Und er wird sie voneinander scheiden, gleich als ein Hirte die Schafe von den Böcken scheidet.« St. Clare las mit interessierter Stimme weiter, bis er an den letzten Vers kam:
»Dann wird er auch sagen zu denen zur Linken: Gehet hin von mir, ihr Verfluchten, in das ewige Feuer, ich bin hungrig gewesen und ihr habt mich nicht gespeist, ich bin durstig gewesen, und ihr habt mich nicht getränkt; ich bin ein Gast gewesen, und ihr habt mich nicht beherbergt; ich bin nackt gewesen, und ihr habt mich nicht bekleidet; ich bin krank und gefangen gewesen, und ihr habt mich nicht besucht. Da werden sie ihm auch antworten und sagen, Herr, wann haben wir dich gesehen, hungrig oder durstig oder als einen Gast oder nackt oder krank oder gefangen und haben dir nicht gedient? Dann wird er ihnen antworten und sagen: Wahrlich ich sage euch: Was ihr nicht getan habt einem unter diesen Geringsten, das habt ihr mir auch nicht getan.«
St. Clare schien vom letzten Satz sehr betroffen zu sein, denn er las ihn zweimal langsam, als ob er die Worte innerlich überlegte.
»Tom«, sagte er, »diese Leute, die da so schwer gestraft werden, scheinen sich nicht anders als ich verhalten zu haben – sie führten ein gutes, ehrsames Leben und kümmerten sich nicht darum, wie viele ihrer Brüder hungrig oder durstig, krank oder gefangen waren.«
Tom antwortete nicht.
St. Clare erhob sich und ging nachdenklich auf der Veranda auf und ab, alles andere über seinen eignen Gedanken vergessend; er war so geistesabwesend, daß Tom ihn zweimal auf den Gong zum Tee aufmerksam machen mußte, bevor er hörte.
Während des Tees war St. Clare zerstreut und gedankenvoll. Nach dem Tee setzte er sich wortlos zu den beiden Damen ins Wohnzimmer.
Marie zog sich auf ihre Ruhestatt hinter seidene Moskitoschleier zurück und war bald fest eingeschlafen. Miß Ophelia griff schweigend zu ihrem Strickzeug. St. Clare setzte sich ans Klavier und spielte eine sanfte, melancholische Weise. Er schien seinen Träumen nachzuhängen und sich in Musik zu verströmen. Kurz danach öffnete er eine Schublade, zog ein altes Notenheft mit vergilbten Blättern hervor und begann darin zu blättern.
»Hier«, sagte er zu Miß Ophelia, »dies ist noch ein Heft von meiner Mutter, hier ist ihre Handschrift – komm, sieh es dir einmal an. Dies hat sie nach Mozarts Requiem zusammengestellt.« Miß Ophelia folgte seiner Aufforderung.
»Das hat sie oft gesungen«, sagte St. Clare. »Mir ist, als hörte ich sie
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