Onkel Wanja kommt
»Philosophenschiff« und hieß Oberbürgermeister Haken . 1922 beschloss die junge sowjetische Regierung, sich vom überflüssigen Ballast der russischen Philosophie zu befreien. Die junge sozialistische Republik nannte sich zwar das Land der Räte, sie brauchte aber nur wohlmeinende, positive Ratschläge zur Verbesserung der ökonomischen Situation des Landes und keine philosophischen Zweifel. Mit Zweiflern und Nachdenkern konnte man keine neue Weltordnung aufbauen. Deswegen beschlossen Lenin und Trotzki, all jene russischen Denker des Landes zu verweisen, die sich von einer aktiven Zusammenarbeit mit der Sowjetmacht distanzierten, weil sie Zweifel an der Entwicklung der Revolution hegten, jedoch ansonsten keiner feindlichen Tätigkeit gegen die neuen Machthaber nachgingen. Der Genosse Trotzki brachte dies auf den Punkt: »Menschen, bei denen es keinen Grund gibt, sie zu erschießen oder sie zu dulden, müssen weggebracht werden.« In einer schnellen Aktion wurden 117 russische Philosophen auf das deutsche Schiff Oberbürgermeister Haken verladen und in Richtung Stettin geschickt.
Zu diesem Zeitpunkt erlebte die russische Philosophie gerade eine äußerst lebendige Phase. Die Philosophen stritten sich die ganze Zeit und hörten auch an Bord nicht damit auf. Die einen behaupteten, Russen seien ihrem Wesen nach Europäer, Russland solle daher den europäischen Weg der Aufklärung und der Vernunft einschlagen, und die Gesellschaft müsse langsam reformiert werden, damit man das Volk Schritt für Schritt auf einen europäischen, menschenfreundlicheren Weg lenken könne. Die andere Gruppe der Philosophen auf dem Schiff bestand dagegen darauf, Russland sei kulturell, wirtschaftlich und politisch schon immer ein Gegengewicht zu Europa gewesen. Es sei von Gott auserwählt worden, die leidende Seele, das hochschlagende Herz und das Gewissen der Menschheit zu sein. Es sei berufen, den ganzen Schaden der Aufklärung und der technischen Entwicklung mit der heilenden Kraft seines Geistes wieder zu kitten, mithin die europäische Nähe mit den asiatischen Wurzeln zu vereinen. Egal was Europa vorhabe, Russland müsse immer dagegen sein. Beide Philosophenfraktionen wurden gleichermaßen von den Bolschewiki des Landes verwiesen, und beide Seiten sahen in ihrer Ausweisung jeweils die Bestätigung der eigenen Theorie. Es ging laut zu auf der Oberbürgermeister Haken .
Es gab allerdings auch noch eine dritte philosophische Gruppe auf dem Schiff, repräsentiert von dem alten Professor Berdjajew. Er vertrat die sogenannte Weinsteintheorie. Laut dieser Theorie blieb immer etwas Ungeklärtes im Weltgeschehen. Bei jeder Entwicklung, bei jeder neuen Erfindung, sogar bei jeder Drehung des Planeten um die eigene Achse entsteht demzufolge immer auch etwas Irrationales, Unvorhergesehenes, so wie sich am Boden jedes klaren Weines ein dunkler Weinstein bildet, der auch noch da ist, wenn der Wein längst ausgetrunken wurde. Berdjajew behauptete, dass die Welt nicht zu erklären sei, jede Mühe mithin vergeblich und jedes Recht strittig. Niemand wisse, was komme. Diese seine Theorie verteidigte der Philosoph jedoch nicht im Gespräch mit seinen Kollegen auf dem Schiff. Stattdessen stand er die ganze Zeit allein an Deck, trank Wein, den er vorsorglich mit dabeihatte, schaute auf das dunkle Wasser und hörte den Schreien der Möwen zu, die das Schiff wie ein revolutionärer Konvoi von beiden Seiten umzingelt hatten, kleine Fische aus dem Meer fingen und die großen russischen Philosophen bis nach Stettin begleiteten. Später siedelten sich die meisten von ihnen in tomatenähnlichen Ländern an. Sie lebten dort relativ sorglos – bis Adolf Hitler mit seiner neuen europäischen Ordnung kam.
Ich bin aber abgeschweift und dadurch vom Onkel abgekommen. » Schmerzen, unerträgliche Schmerzen im ganzen Körper «, schrieb er. » Es hat keinen Sinn, die Wahrheit zu leugnen, ich sterbe. Bevor ich sterbe, möchte ich aber noch gerne einmal die Welt bereisen. Vielleicht nicht die ganze Welt, vielleicht nur Europa, oder gar nur Deutschland, und auch dort nur Berlin. Kurzum, schick mir bitte eine Einladung. «
Ich überlegte nicht lange und ging ins Einwohnermeldeamt. Eine Einladung nach Deutschland ist keine große Sache. Ich musste dafür bloß übers Internet einen Termin beim Amt beantragen und eine Bescheinigung des Arbeitgebers einholen, als Beweis dafür, dass ich genug verdiente, um meinen Gast soundso viele Tage versorgen zu können. Außerdem
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