Onkel Wanja kommt
doch endlich der richtige Zug gekommen, und das ewige Warten hatte sich gelohnt.
Im späteren, verschärften Kapitalismus führte man eine regelrechte Eintrittskarte für das Betreten des Bahnhofs ein, als wäre das Gewimmel dort eine Opernveranstaltung. Gleichzeitig explodierten die Preise für Zugfahrkarten. Die Bahnhöfe wurden zu leeren Tempeln, die aussahen, als hätte eine Neutronenbombe eingeschlagen, die nur Menschen vernichtete, aber ihre Sachen unbeschädigt ließ. Auch die Züge waren alle noch da, nur die Passagiere fehlten. Geschäftsleute verabredeten sich in den Bahnhofsrestaurants, wenn sie ungestört miteinander reden wollten. Aber der Eintrittspreis für die Bahnhofsgebäude war auf Dauer zu hoch und zu unmenschlich, er hielt sich nicht lange.
Meine Bekanntschaft mit Berlin begann ebenfalls an einem Bahnhof. Damals war der Hauptbahnhof noch nicht gebaut worden, und wir stiegen in Lichtenberg aus, mein Freund M. und ich. Wie viele Russen damals träumten wir von einem neuen Leben auf unbekanntem Territorium. Berlin sollte auf keinen Fall unsere Endhaltestelle werden, wir sahen uns mehr auf der Durchreise in Richtung Paradies. Wir waren geteilter Meinung, ob wir überhaupt in Deutschland aussteigen oder gleich weiterfahren sollten. Der Bahnhof Lichtenberg beeindruckte uns jedoch sehr. Fröhliche Fremde sprachen uns an, sie drückten uns illustrierte Büchlein in die Hand, einfach so als Geschenk. Überall auf dem Boden lagen Münzen, überflüssiges Geld, das die Berliner anscheinend nicht mehr brauchten, und ständig liefen lustige Betrunkene mit Fahnen herum. Das Ganze erinnerte mich stark an einen Kindergeburtstag oder eine Hochzeit, bei der man das Brautpaar mit Kleingeld bewirft und jeder Gast Geschenke bekommt.
»Wenn es hier jeden Tag so zugeht, dann möchte ich gerne hierbleiben. Ich möchte an diesem Fest des Lebens aktiv teilnehmen«, meinte M., der sonst eigentlich eher passiv an den von uns regelmäßig gefeierten Festen des Lebens teilgenommen hatte, indem er still in einer Ecke saß und rauchte.
Ich konnte mir die Bombenstimmung am Bahnhof Lichtenberg nur mit der angeborenen Fröhlichkeit der Berliner erklären. Erst später erfuhren wir die Wahrheit: Dass nämlich die lustigen Besoffenen mit den Fahnen, die uns mit Flaschenbier beschenkt hatten, dort nicht jeden Tag herumliefen, sondern nur an diesem einen Tag unterwegs waren, weil die deutsche Fußballmannschaft am Tag unserer Anreise völlig unerwartet in Italien gegen Argentinien gewonnen hatte und Weltmeister geworden war. Und das Kleingeld auf dem Boden war der Währungsunion geschuldet. Es waren DDR -Münzen, die keinen kapitalistischen Pfennig mehr wert waren. Und die fröhlichen Menschen, die uns Bücher mit Zeichnungen geschenkt hatten, waren keine durchgedrehten Buchhändler, sondern Zeugen Jehovas, die damals in den Zügen aus Osteuropa verstärkt nach neuen potenziellen Anhängern fischten.
Bereits am nächsten Tag, nach einer durchzechten Nacht mit viel Bier, kam uns Berlin trist und grau vor. Wir wussten nicht, was tun, kannten niemanden in der Stadt und gingen zurück zum Bahnhof, wohin sonst? So wurde der Bahnhof dann auch zu unserer ersten Arbeitsstelle in Berlin. Wir verkauften dort Bier und Süßigkeiten, die wir uns in einer Aldi-Filiale nicht weit vom Bahnhof entfernt besorgten. Damals war das Gebäude voll von Kleinhändlern wie uns, alle zwei Meter standen Möchtegernkapitalisten und priesen laut ihre Ware an, soweit die Sprachkenntnisse es ihnen erlaubten. Erst nach einem halben Jahr verließen wir unseren Arbeitsplatz Bahnhof endgültig und widmeten uns anderen Tätigkeiten.
Heute bin ich jedoch als lesereisender Schriftsteller erneut jede Woche auf dem Hauptbahnhof. Ich kenne hier jede Ecke, jeden Zeitungskiosk, und ich brauche keine Tafel, um zu erfahren, wo welche Züge anhalten. Der Hauptbahnhof ist quasi vor meinen Augen gebaut worden, drei Etagen voller Geschäfte, bunt, schick, modern – ein Konsumtempel mit Zugverkehr. An die Stelle der Bierverkäufer sind Restaurants für jeden Geschmack getreten, so werden hier zum Beispiel bei Gosch die besten Matjes der Stadt angeboten. Gut, Geschmack ist immer subjektiv, von Russen wie von Holländern wird die weniger salzige, nicht mit Essig vergiftete Variante geschätzt. Meine Frau und meine Mutter rufen mich immer an, wenn sie wissen, dass ich von einer Lesereise am Hauptbahnhof ankomme. Ich muss ihnen dann immer ein Dutzend Matjesheringe
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