Opas Eisberg: Auf Spurensuche durch Grönland (German Edition)
alpinistische Rekorde, über die großen Outdoor-Abenteurer unserer Zeit. In Interviews haben mir Grenzgänger mit ausgemergelten Wangen und glänzenden Augen davon erzählt, wie man sich schlagartig eins mit der Natur fühlt, wenn man sich auf Leben und Tod mit ihr auseinandersetzt. Die Schlüsselstellen auf dem Weg zum Gipfel des Mount Everest oder K2 sind mir aus vielen Erzählungen fast so vertraut wie der Weg von meiner Wohnung ins Büro. Ich habe alle Abenteuerklassiker gelesen, habe vom Lesesessel aus mit Reinhold Messner die höchsten Berge der Welt bestiegen und mit Jon Krakauer den Everest-Kommerz verflucht, mit Hermann Buhl am Nanga Parbat triumphiert und mit Kurt Diemberger am K2 um Leben und Tod gekämpft. Ich bin mit Roald Amundsen zum Südpol gestapft und starb mit Robert F. Scott im Zelt.
Und jetzt hat mich das Tagebuch meines Opas so gepackt, dass es mich bis in den Schlaf verfolgt. Letztens habe ich geträumt, dass meine Mutter und ich zu Opas Obduktion eingeladen sind. Eine Krankenschwester schiebt die Liege aus Metall herein, unter einem Tuch liegt eine Art Mumie, in weiße Binden gewickelt. Wir bekommen Buttermesser in die Hand gedrückt und sollen anfangen, wissen aber nicht so recht, womit. Zaghaft schnibble ich ein wenig am Arm herum, ans Gesicht traue ich mich nicht. »Das hat doch keinen Sinn«, sage ich, dann bin ich aufgewacht.
10. April 1912
Atlantischer Ozean
Roderich Fick, ein hochgewachsener Mittzwanziger mit unentschlossenem Schnurrbart und Schirmmütze, steht steuerbord an der Reling der »Hans Egede« und sieht zum ersten Mal die Südküste der größten Insel der Erde. Zwölf Tage lebt er schon an Bord des fürchterlich schaukelnden Dreimaster-Dampfschiffs, Baujahr 1905. Zwölf Tage in einem 52,3 Meter langen und 10,5 Meter breiten Gefängnis aus Holz und Metall.
Die Überfahrt aus Kopenhagen ist ein täglicher Kampf mit der Seekrankheit. Wenn der Gong zum Essen ertönt oder der dänische Schiffsjunge Arthur jeden einzeln fragt »Vil du komme at spise?«, winken die grüngesichtigen Polarforscher meist mit Nachdruck ab. Nur die Hafersuppe am Morgen bleibt die vorgesehene Zeit im Magen. Fischpudding dagegen, »die schlimmste Erfindung der dänischen Phantasie« (Alfred de Quervain), kann keiner der sieben Schweizer an Bord mehr sehen. Genau genommen sind es sechs Schweizer und ein Deutscher, aber Roderich fühlt sich nach 24 Jahren in Zürich längst als Landsmann. Auch sprachlich fällt er nicht auf, viele Substantive in seinem Tagebuch enden ganz schweizerisch auf »li«.
Die Nationalität ist bei dem vor ihm liegenden Unternehmen nicht ganz unwichtig, de Quervain hat vorher Bewerber aus Norwegen, Österreich und Frankreich abgewiesen. Er ist der Meinung, dass bei der Erforschung der Polarregionen nun endlich einmal die Schweiz eine historische Rolle spielen soll.
Oft sitzt Roderich in diesen qualvollen Tagen, in denen das Schiff zum Spielball der Elemente wird, zusammen mit seinem Freund Karl Gaule auf dem Eisengitter hinter dem Schornstein, zwischen den beiden Rettungsbooten. Über dem Kesselraum ist es ein bisschen wärmer als auf dem Rest des Decks, außerdem kommt hier das Meerwasser nicht hin, das weiter unten regelmäßig knöchelhoch die Planken flutet. Für diese Annehmlichkeiten nehmen sie selbst den durchdringenden Gestank von verbranntem Öl in Kauf. »Ich möchte sie als thermotrop von den übrigen mehr aerotropen Mitgliedern unterscheiden«, schreibt der um Kategorisierungen nie verlegene de Quervain. Er nennt seine zwei jüngsten Mitstreiter »die Germanen vom Zürichberg«, weil auch Gaules Vater, der Medizinprofessor Justus Gaule, aus Deutschland stammt.
Gaule junior ist etwa 1,75 Meter groß, hat ein schmales, längliches Gesicht, kurz geschorene dunkelblonde Haare und einen leichten Bauchansatz. Für Abwechslung an Bord sorgt sein »Dynamometer«, eine kleine Gerätschaft, mit der sich die Stärke des Händedrucks messen lässt. Bei Wettkämpfen bestehen die Expeditionsteilnehmer ihre erste Kraftprobe: An guten Tagen erreichen alle um die 60 Kilo, um Längen schlagen sie die dänischen Besatzungsmitglieder, die im Schnitt nur 42 Kilo schaffen.
Gesprächsthemen finden die beiden Arztsöhne genug auf ihrem Gitterrost. Beide haben gerade ihr Studium beendet, Gaule als Ingenieur, Roderich als Architekt, allerdings ohne Abschluss. Beide wissen noch nicht so recht, was sie beruflich machen wollen – falls sie lebend von der Expedition zurückkommen. Sie
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