Opernball
den Schlag führen, aber ihm würde keine Zeitenwende folgen. Wir haben den ersten Teil zu vollführen, Leitner und die Seinen den zweiten. Sie werden uns zur Macht verhelfen.«
»Weiß Feilböck das nicht?« fragte ich.
Der Geringste legte mir die Hand auf die Schulter. »Nein«, sagte er und zog mich dabei langsam ins Vorzimmer, »ich habe Feilböck nie vertraut. Er war nie hier in Leitners Gästewohnung. Aber ich habe oft mit ihm über die Lage gesprochen. Feilböck will immer noch alte Revolutionen nachspielen. Er will nicht begreifen, daß in den letzten Jahrzehnten in Europa eine gigantische Polizei aufgebaut wurde, gegen die wir keine Chance haben. Doch in der Polizei gärt es. Sie will nicht länger Laufbursche der Politiker sein. Sie fiebert einem Anlaß entgegen, um wie ein erwachsener Mensch selbständig handeln zu können. Und den werden wir ihr bieten. Tausende Polizisten warten auf den Befreiungsschlag. Wem er gelingt, dem gehört das Land. Feilböck wird das schließlich einsehen. Er wird zu uns zurückfinden.«
Kurz darauf stand ich draußen auf der Straße. Während ich durch eine verregnete Nacht den ganzen Weg bis zum Reumannplatz zu Fuß ging, wurde mir meine neue Funktion langsam bewußt. Auf der einen Seite gab es eine Gruppe von hohen Polizisten und vielleicht anderen Personen, die eine Neuverteilung der Macht anstrebten. Auf der anderen Seite gab es uns, die Entschlossenen, die Harmagedon vorbereiteten. Der Geringste war der Verbindungsmann zwischen diesen beiden Seiten, gleichsam der Mittelteil des Flügelaltars. Und ich war sein neuer Adjutant, verantwortlich für das reibungslose Zusammenspiel der beiden Seiten. Damit wußte ich mehr als die anderen Eingeweihten. Das hieß aber, wurde mir beim Heimgehen plötzlich bewußt: Wenn ich in meiner Aufgabe versagte, würde mir das drohen, was Leitner für Feilböck gefordert hatte, die Auslöschung.
In den nächsten Wochen traf ich den Geringsten in der Wohllebengasse immer wieder, insgesamt vielleicht zwanzigmal. Ich durfte ihn jeden Tag nach Mitternacht besuchen. Wenn er mich nicht treffen konnte, weil er schon anderen Besuch hatte oder nicht zu Hause war, hing am Gitter des Kellerfensters rechts von der Eingangstür ein kupferner Drahtring. Das meiste, was ich über die Jugend des Geringsten weiß, habe ich bei diesen Treffen nach Mitternacht erfahren. Die Geschichte seines Vaters, seiner Mutter, und die enge Beziehung zum Abt von Kremsmünster. Ich glaube, daß er mir dieser Abt sein wollte. Immer, wenn ich ihn besuchte, bot er mir Alkohol an. Er trank nie. Vielleicht war ich sein einziger Freund. Oft sprach er vom Verrat als einer wichtigen Entscheidung, als einer Erfahrung, ohne die man nicht erwachsen werden kann. So, als wollte er mich zum Verrat ermutigen, was seltsam war, weil sich unsere ersten Treffen in der Wohllebengasse hauptsächlich um die Frage drehten, wie wir mit dem Verräter Feilböck abrechnen.
Die Bestrafung sollte heimlich erfolgen und doch auf eine unanzweifelbare Weise Leitners Freunden bekannt werden. Die Polizei mußte davon erfahren, aber durfte keine Anhaltspunkte für eigene Recherchen haben. Der Geringste hatte sich mit Leitner über die Art der Bestrafung verständigen können. Von Auslöschung war keine Rede mehr. Die Strafe mußte aber abschreckend sein. Leitner wollte offensichtlich seinen Verbündeten deutlich vor Augen führen, wie wir, die Entschlossenen, oder wie immer er uns nennen mochte, mit Verrätern umgehen. Feilböcks Tod war damals kein Thema für uns. Ich kann bezeugen, daß der Geringste alles unternommen hat, um Feilböck zu retten. Es ging vor allem darum, Feilböck eine Chance zu bieten, sich alles noch einmal in Ruhe zu überlegen. Er brauchte einen sicheren Fluchtort. Da Leitner in diesem Fall nicht nur als Helfer ausschied, sondern nicht einmal davon wissen durfte, daß wir für Feilböck ein Versteck organisierten, war diese Aufgabe kaum zu lösen. Es begann schon damit, daß wir in der Wohllebengasse darüber nicht sprechen konnten.
Der Geringste stellte den Computer an und sagte: »Schauen wir uns um, was es in der Mailbox Neues gibt!«
In Wirklichkeit ging er nicht ins Netz, sondern schrieb mir auf dem Bildschirm eine Botschaft, die ich beantwortete. Und so unterhielten wir uns.
»Bist Du sicher«, schrieb ich, »daß Leitner nicht mitlesen kann?«
Der Geringste machte Bemerkungen, als würde er ein fremdes Mailing lesen: »Da schau, was der Luchs wieder schreibt. Schön langsam
Weitere Kostenlose Bücher