Opernball
Auto hinunterzutragen.
Noch in der Nacht räumten wir Herberts Zimmer aus. Es liegt neben dem Gästezimmer. Herbert war nicht begeistert, gab aber schließlich nach und half mit. Er bekam einen notdürftigen Arbeitsplatz im Wohnzimmer. Er arbeitete in letzter Zeit ohnedies selten daheim. Ich ergänzte die Einrichtung von Herberts Zimmer an manchen Stellen mit Stühlen und Hockern. Dann legte ich die Manuskripte und Bücher in genau derselben Ordnung aus, wie ich sie in Berlin vorgefunden hatte. Es lohnte nicht mehr, schlafen zu gehen. Ich begrüßte meinen Vater um fünf Uhr morgens mit einer Tasse Kaffee und öffnete die Tür zu Herberts Zimmer. Mein Vater war zunächst sprachlos. Dann sagte er etwas Seltsames.
»Du bist die geborene Frau für einen Forscher.«
Es dauerte noch eine Weile, bis er einen Gehgips bekam und sein neues Arbeitszimmer benützen konnte.
Damals sagte er auch, Tim habe Theaterblut in sich. Wenn er schon bei seiner Ökonomie bleibe, solle er wenigstens versuchen, kaufmännischer Direktor des Burgtheaters zu werden. Burgtheater. Nichts darunter durfte es bei ihm sein.
Als er endlich den Gehgips hatte, humpelte er in aller Früh mit seinen Krücken ins Nebenzimmer, und es war wie in meiner Kindheit. Ich wollte sogar Herbert abhalten, den Raum zu betreten, wenn er für seine Arbeit irgend etwas aus einem Schrank oder Regal benötigte. Eines Morgens rief mich mein Vater um fünf Uhr morgens an. Herbert hat in seinem Arbeitszimmer einen Apparat mit eigener Telefonnummer. Er sagte: »Wir gehen doch zum Opernball.«
Die Vorfreude hat die Heilung seines Beines beschleunigt. Am achtzehnten Februar wurde ihm der Gips herabgeschnitten. Danach konnte er nicht einmal mit Krücken gehen. Aber er trainierte hartnäckig. Am zwanzigsten teilte er uns beim Frühstück mit, er werde jetzt nach Berlin fahren und am nächsten Tag von Berlin nach Wien fliegen. Das ließen wir nicht zu. Es stellte sich heraus, daß es ihm vor allem darum ging, in Ruhe seine Garderobe auszuwählen. Ich brachte ihn mit dem Auto nach Berlin und begleitete ihn zur Wohnung hinauf. Ich bat ihn, sich Zeit zu lassen. Ich würde erst ein wenig bummeln und dann im Café Einstein auf seinen Anruf warten. Und wenn es Abend werden würde, mache es auch nichts, ich hätte ein Buch mitgenommen, das ich schon lange lesen wolle. Als ich ins Einstein kam, saß mein Vater schon dort und las seine Zeitungen.
»Ich habe ohnedies nur einen einzigen Frack, der in Frage kommt«, sagte er. »Ein Hemd habe ich mir neu gekauft.«
Er überreichte mir die Tasche einer Herrenboutique vom Breitscheidplatz, und ich bewunderte sein neues Hemd. Dann stand er auf und ging ohne Krücken zur Toilette. Nach kurzem Weg griff er nach allem, was in Reichweite war. Aber er ging weiter.
Der Ingenieur
Siebtes Band
Als ich das erste Mal bei ihm in der Wohllebengasse war, hielt mich der Geringste am kleinen Finger fest und kniff die Augen zusammen.
»Feilböck hat gesündigt«, sagte er. Ich nickte.
»Du weißt, was das heißt?«
Ich nickte.
» Wenn einer mit dem Schwerte getötet werden soll, so muß er mit dem Schwerte getötet werden.«
»Ich bin zu jeder Strafaktion bereit«, sagte ich. Der Geringste ließ meinen Finger los. Mir fiel plötzlich auf, daß er das erste Mal in einem Einzelgespräch ohne amerikanischen Akzent zu mir sprach. Ich hatte mich an den amerikanischen Akzent längst gewöhnt. Sein alter, wienerischer Tonfall, durch den man das Oberösterreichische heraushörte, hatte etwas Fernes und Vertrautes zugleich, wie eine Kindheitserinnerung, die einem plötzlich das Gefühl gibt, daß man eigentlich einem anderen Leben angehört. Er hat mich auserwählt. Der Gedanke setzte sich in mir fest. Er hat mich auserwählt. Am liebsten hätte ich den Geringsten umarmt, aber ich durfte keinen Fehler machen. Während er mich ansah, als wollte er prüfen, ob ich des Vertrauens würdig war, wich ich zurück und setzte mich auf einen Fauteuil. Mir war, als wäre in meinen Lebensfilm eine andere Spule eingelegt worden. Ich war in den inneren Kreis zugelassen. Die große Prüfung ist bestanden, dachte ich. Ich sitze in der Wohnung des Geringsten. Er hat mir den Vorzug gegeben. Ich bin zu allem bereit. Er soll sagen, was ich zu tun habe. Ich stehe zu seiner Verfügung.
Als ich am späten Nachmittag mit der Rolltreppe von der U-Bahn zum Reumannplatz hinaufgefahren war, hatte ich Steven Huff mit ein paar Flugblättern in der Hand neben der roten
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