Opernball
was er aber nicht tat.
Es kam der Tag, an dem Vater in der Früh nicht mehr ansprechbar war.
»Jetzt haben Sie es bald überstanden«, sagte Derfl zu mir auf dem Gang. Ich hätte es bald überstanden. Ein Dorflackl. Es war unsere zweite und zugleich letzte Begegnung. Da geht er jetzt und weiß, daß er nicht mehr zu kommen braucht. Reso Dorf wird nicht weinen. Weint so einer überhaupt? Ich wollte ihm keine Tränen gönnen. Mein Vater konnte zwar nicht mehr reden, aber er spürte mich noch. Wenn ich seine warme Hand hielt und es wurde die Tür geöffnet, drückte er seine Finger plötzlich zusammen, als ob er Angst hätte, ich würde ihn verlassen. An seinem 54. Hochzeitstag starb mein Vater. Ein Arzt hatte am Vortag ganz leise zu mir gesagt: »Heute nacht.«
So blieb ich die ganze Nacht im Krankenhaus. Sigrid war schon die Nächte zuvor bis zwei, drei Uhr geblieben. Sie war vollkommen übermüdet. Nach Mitternacht fuhr sie heim. Woher der Arzt seine Prognose nahm, war mir schleierhaft. Nichts hatte sich verändert.
Ich saß auf der Bettkante und beobachtete das monotone Tropfen der Infusion. Über unseren Köpfen war ein Laken gespannt, das ich jede Viertelstunde mit Wasser besprühte. Ich hatte Angst. Wie stirbt man? Woher weiß ich, jetzt stirbt er? Immer, wenn ich seinen Puls fühlte, dachte ich, jetzt kommt der Tod. Unwillkürlich ließ ich die Hand los. Vielleicht denkt Vater, ich könne es nicht erwarten. Ich wagte nicht mehr, den Daumen über sein Handgelenk zu legen.
Immer wieder mußte ich an unser Gespräch während des Opernballs denken. Ich hatte niemandem davon erzählt. Aber auch mit Vater nie wieder über seine Assistentenjahre gesprochen. Es war kein Schweigen. In vielen Momenten war das Thema anwesend. Wenn er plötzlich die Augen senkte und ich nichts sagte.
Die Nacht war laut. Ein Sturm schlug Blätter an die Fenster. Manchmal bewegte sich der Vorhang. Die Fenster waren undicht. In den Bäumen kreischten Krähen. Ich hatte das Gefühl, das alles schon erlebt zu haben, wußte aber nicht, wie es weiterging. Immer kam mir das Telefon in den Sinn. Wen hätte ich anrufen sollen. Ich kann doch nicht meinen Mann anrufen und sagen: »Bald hast du mich wieder.«
Mein Vater atmete schwer – und langsam. Hin und wieder gurgelte es wie in einem Abfluß. Es war seltsam, allein zu sein mit diesem Atem und der warmen Hand, die ich immer wieder ergriff.
Gegen sieben Uhr, als es hell wurde, wechselte das Pflegepersonal die Schicht. Mein Vater atmete noch. Fast stolz präsentierte ich ihn dem Arzt, der für die Nacht den Tod angekündigt hatte. Ich war weder müde noch hungrig. Bevor sie zur Arbeit fuhr, kam Sigrid kurz vorbei. Sie war erleichtert.
Es wurde ein sehr heller Tag, zu hell für ein Sterbezimmer. Ich zog die Vorhänge zu. Eine Schwester wollte mich ablösen. Ich solle heimgehen und mich ausruhen, sagte sie. Aber ich wollte ihn nicht im Stich lassen. Ich hätte den Anruf nicht ertragen: »Ihr Vater ist tot.«
Mein Vater ist tot, das kam mir plötzlich vor wie ein Satz aus meiner Kindheit. Als hätte ich ihn oft gehört. Und wußte doch nicht, wohin damit. Ich sann lange darüber nach. Wieder brachte ich den Satz mit einem Telefongespräch in Zusammenhang. Zuerst Telefonläuten, dann der Satz: Mein Vater ist tot. Mehr fiel mir dazu nicht ein.
Vielleicht waren zwei Stunden vergangen, seit ich die Vorhänge zugezogen hatte. Ich saß neben dem Bett und kämpfte nun doch mit dem Schlaf. Vaters Hand hatte ich losgelassen. Plötzlich richtete er sich auf. Seine Hände umklammerten die Metallrahmen auf beiden Seiten des Bettes. Er streckte die Arme durch und öffnete die Augen, ganz langsam. Wir starrten uns an. Ich dachte, jetzt steht er auf und geht fort. Er bewegte die Lippen, als wollte er etwas sagen, und brachte doch keinen Ton hervor. Die Augen nun ganz weit aufgerissen, klopfte er sich auf die Brust.
»Er erstickt«, schrie ich, so laut, daß ich meine Stimme nicht wiedererkannte. Zwei Schwestern und ein Arzt kamen herein. Der Arzt hielt mich von hinten an der Schulter. Eine Schwester streichelte mir die Hand.
»Schau«, sagte sie, »jetzt ist er erlöst.« Wie auf Kommando legte sich mein Vater zurück und wurde zu einer fremden Wachsfigur. Ganz glatt und ganz weiß war die Haut. Die Augen hatte er noch selbst geschlossen.
Später, nachdem der Arzt den Leichnam meines Vaters untersucht hatte, wagte ich diesen Körper, den ich eben noch gestreichelt hatte, nicht einmal mehr zu berühren.
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