Opernball
wo er durchkam, wurde er angeschnauzt. Er solle sofort aus der Leitung gehen. Für Auskünfte habe man jetzt keine Zeit.
Als es schon hell war, wurde endlich eine Telefonnummer bekanntgegeben, unter der man erfragen konnte, ob Angehörige in Krankenhäuser eingeliefert wurden. Sie war immer besetzt. Herbert gab nicht auf. Ich saß daneben im Fauteuil, hörte das Drücken der Wiederholungstaste, die schnelle Folge der Digitaltöne, das Besetztzeichen, das Klicken der Unterbrechung, dann wieder die Wiederholungstaste. So ging das stundenlang. Sigrid kochte Kaffee. Schließlich schrie Herbert: »Verdammte Scheiße. Jetzt gehe ich selbst nachschauen.«
Er wollte fortgehen. Ich hätte ihn gehen lassen. Ich war zu jeder vernünftigen Überlegung unfähig geworden. Sigrid hielt ihn zurück. Sie sagte: »Entweder er ist tot, dann kannst Du ihm nicht mehr helfen, oder er liegt in einem Krankenhaus, dann wirst Du ihn nicht finden.«
Im Radio hatten wir gehört, daß die Kranken mit Hubschraubern auch nach St. Pölten, Horn, Zwettl, Baden, Wiener Neustadt, ja bis Linz und Graz transportiert worden waren. Herbert blieb und drückte weiter die Telefontasten. Um zehn Uhr vormittags kam er durch. Sigrids Telefon hatte einen Lautsprecher. Eine Frauenstimme sagte: »Moment.« Dann hörte man Zettel rascheln. Es dauerte endlos. Schließlich fragte sie: »Wie war der Name?«
Herbert nannte ihn nochmals.
Sie fragte: »83 Jahre alt?«
»Ja«, sagte Herbert. »Haben Sie ihn?«
Sie antwortete: »Er wurde in den Göttlichen Heiland eingeliefert.«
Herbert legte den Hörer auf und schloß die Augen. Wir schauten auf das Telefon, als wäre es ein neugeborenes Kind.
»Dann fahren wir doch hin«, sagte ich. Es war seit Stunden der erste Satz, den ich herausbrachte. Sigrid rief ein Taxi. Wenigstens das funktionierte noch. Die Ringstraße war gesperrt. Der Taxifahrer fuhr über den Schwarzenbergplatz die Prinz-Eugen-Straße hinauf zum Gürtel. Am Südbahnhof waren schwarze Flaggen hochgezogen. Auch an einigen Gemeindebauten. Die Fahrt dauerte mindestens eine dreiviertel Stunde. Am Anfang waren wir hoffnungsvoll. Doch bald siegte die Angst, daß wir Vater in einem furchtbaren Zustand vorfinden würden. Herbert sagte: »Wenn er im Krankenhaus liegt, war er nicht mehr in der Oper. Vielleicht war es nur ein Schock, und wir können ihn mit nach Hause nehmen.«
Es tat gut, so etwas zu hören. Am Hernalser Gürtel ließ Sigrid anhalten. Sie kaufte einen riesigen Strauß roter Rosen. Ich ärgerte mich ein wenig darüber, aber ich hätte es blöd gefunden, wenn ich nun auch Blumen kaufte. Kennen Sie das Krankenhaus zum Göttlichen Heiland? Es liegt in der Dornbacher Straße, ein kleines Krankenhaus. Dort erlitten wir den nächsten Schock. Der Portier suchte in seinen Listen, fand aber meinen Vater nicht. Sigrid sagte: »Er muß in der Nacht eingeliefert worden sein.«
»Ach so«, meinte der Portier, »ein Opernballgast. Warum sagen Sie das nicht gleich? Da habe ich noch keine Liste.«
Er rief irgendwo an und schickte uns dann auf die Intensivstation. Dort lag mein Vater im Koma. Er wurde künstlich beatmet. Die geistliche Oberschwester ließ uns zu ihm hineingehen. Es war, als ob er schliefe. Seine schlohweißen Haare, das regelmäßige Piepsen der Geräte, die Sauggeräusche der Beatmungsmaschine, auf dem Monitor die Herzfrequenz. Abwechselnd ergriffen wir seine Hand und überzeugten uns, daß sie warm war. Der ganze Raum war mit Geräten so voll, daß für Sigrids Blumen kein Platz war. An der Wand hing ein großes Kreuz.
»Wie stehen seine Chancen?« fragte Sigrid. Die Oberschwester antwortete: »Von denen, die heute nacht eingeliefert wurden, ist er einer der wenigen, bei denen wir noch Hoffnung haben.«
Sie bat uns, wieder hinauszugehen. Wir wollten einen Arzt sprechen. Aber die waren so beschäftigt, daß es ein paar Stunden dauerte, bis einer kurz für uns Zeit hatte. Er sagte, mein Vater habe schwere Vergiftungserscheinungen. Er wolle keine Prognosen stellen. Aber allein die Tatsache, daß er noch lebe und seine Herzfrequenz stabil sei, eröffne gewisse Chancen. Dann eilte er wieder fort. Wir hinterließen Sigrids Telefonnummer und baten die Oberschwester, sofort anzurufen, wenn sich irgend etwas ändere.
Vier Tage lang kam kein Anruf. Wir fuhren trotzdem täglich zweimal ins Krankenhaus und fanden dieselbe Situation vor. Die Ärzte hatten von Tag zu Tag mehr Zeit für Auskünfte. Aber sie gaben meinem Vater immer weniger Chancen.
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