Opernball
»Ihr Vater ist nicht allein.«
»Wer?« fragte ich.
Sie antwortete: »Kriminalpolizei.«
Ich ging auf den hellen Marmorplatten auf und ab. In einer Fensternische blieb ich stehen, versuchte es mit Atemübungen. Draußen schnäbelte eine Amsel im gelben Gras, eifrig und nervös. Nach einer Weile hörte ich hinter mir einen sicheren, zielstrebigen Schritt, einen Geschäftsschritt. Ein Mann fragte: »Sind Sie die Tochter vom Herrn Professor?«
Er trug einen gebauschten, hellen Parka. Seine schwarzen, glatten Haare waren viel zu lang für einen Kommissar. Er stellte Fragen, ohne sich vorzustellen. Von meinem Vater hatte er erfahren, daß auch ich auf dem Opernball gewesen war. Er fragte, ob mir irgend etwas Ungewöhnliches aufgefallen sei.
»Denken Sie nach«, sagte er mit einem leichten slawischen Akzent. »Denken Sie in Ruhe darüber nach. Ich werde wiederkommen.«
Dann wollte er wissen, warum wir den Opernball so früh verlassen haben. Ich erzählte ihm von meinem Mißgeschick. Das schien für ihn kein ausreichender Grund zu sein. Was mich ärgerte, weil ich plötzlich das Gefühl hatte, er wolle mich dem Täterkreis zuordnen.
»Wer sind Sie überhaupt?« fragte ich ihn.
Er sagte irgend etwas mit Dorf. Der Familienname war Dorf. Ich dachte mir, wie passend. Aber ein kleines Dorf, ein Derfl, wie die Wiener sagen. Meinem Vater hatte er seinen ganzen Namen in Blockbuchstaben groß auf eine Karte geschrieben: RESO DORF.
Fünf Wochen lag mein Vater im Krankenhaus, da erfuhren wir, daß er das Krankenhaus nicht mehr verlassen wird. Wir sagten es ihm nicht. In den Nächten fand ich keine Ruhe, dachte immer, hoffentlich kann er schlafen. Er habe gut geschlafen, sagte mein Vater jeden Morgen. Sein Blick auf die Infusionsflasche.
»Wenn ich alles so gut könnte wie schlafen.« Dennoch, kaum kam die Nacht, dachte ich, hoffentlich kann er schlafen. Das war wie ein endloses Gebet, wie ein Rest davon, den ich nicht abstellen konnte. Wenn er schon nicht unsterblich ist, soll er wenigstens schlafen können.
Ruhig war ich nur, wenn ich bei ihm war. Aber er machte es mir schwer. Er fragte mich: »Glaubst Du, ich werde sterben?«
Wenn er spürte, daß ich litt, lenkte er ab. Er begann, quer durch die Weltliteratur zu zitieren, suchte eine Schneise zum Humor. Ich half ihm und probierte zu lächeln.
Wie ein Kind ließ er sich pflegen. Ich duschte ihn und ölte ihn ein. In der Badewanne wollte er zum Abschluß sehr viel kaltes Wasser über seinen Körper laufen lassen. Er hatte früher sein Duschbad immer mit kaltem Wasser abgeschlossen. Wenn ich zögerte, weil ich meinte, es sei schon genug, er werde zu frieren beginnen, riß er mir die Brause aus der Hand. Er ging damit so ungeschickt um, daß ich jedesmal im Regen stand.
Er wollte unbedingt naß rasiert werden. Elektrorasierer lehnte er ab. Den Schwestern war das zu langwierig. Er fragte mich, ob ich sein Barbier sein wollte. Als wäre das die höchste Auszeichnung. Ich hatte aber die größte Mühe, meiner Ehre gerecht zu werden. Er wollte ganz glatt rasiert sein, überprüfte die Haut immer wieder mit seiner zittrigen, braun gefleckten Hand. Danach wünschte er eine Behandlung mit heißen Tüchern, anschließend Creme. Für die ganze Prozedur benötigte ich gut eine Stunde. So hatten wir etwas zu tun. Wenn ich fragte, »Ist es schon genug?«, kontrollierte er.
»Ich will ganz glatt sein.«
Um nicht in die Falten zu schneiden, spannte ich seine Haut mit meinen Fingern. Die Falten waren weiße Striche, aber schön, bis zuletzt. Ich schnitt ihm die Haare aus den Nasen- und Ohrenlöchern. Ich mußte sehr viel Rasiercreme auftragen. Er wollte stark duften. Ich glaube, er konnte nichts mehr riechen, weil er immer noch mehr verlangte.
Anfangs hatte ich nur einen Taschenspiegel gekauft, der war ihm zu klein. Ich brachte einen großen Spiegel. Nachdem ich ihn gepflegt hatte, sah er sich darin an. In solchen Momenten, wenn er jeden Zentimeter seines Gesichts zu überprüfen schien, vergaß ich, daß er sterben würde.
Mein Leben lang habe ich nicht solche Nähe zu ihm empfunden. Ich durfte zärtlich sein und ihn streicheln. Er genoß es. Und ich wollte es. Ich hatte den Wunsch, irgend jemand (meine Mutter? oder Sigrid?) sollte auf mich eifersüchtig sein. Manchmal, in der Badewanne, aber auch, wenn ich ihn zudeckte, sah ich sein Glied. Es war lang. Ich stellte mir vor, wie meine Mutter es in sich aufnahm. Ob er wollte, daß ich es berühre? Ich ließ ihn es selbst waschen,
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