Opernball
Vielleicht wollten sie uns darauf vorbereiten, bald vor der Frage zu stehen, ob sie die Geräte abschalten sollten. Die Situation wurde immer angespannter.
Unsere Kinder behaupteten am Telefon, sie kämen allein zurecht. Doch dann rief Tim in der Nacht an und gestand, daß die Heizung schon einen Tag nicht funktioniere. Es sei eiskalt im Haus. Sie wüßten nicht, wie die Heizung wieder in Gang zu bringen sei. Das war das Stichwort für Herbert. Er hatte ohnedies zwei Tage lang ständig herumtelefoniert und Termine abgesagt. Jetzt hatte er endlich einen Grund, zurückzufliegen.
Kaum war er fort, kam der Anruf, mein Vater sei aus dem Koma erwacht. Wir fuhren sofort zu ihm. Seine Augen lachten. Er drückte unsere Hände. Der Beatmungsschlauch führte jetzt nicht mehr durch seinen Mund, sondern durch die Nase. Ein Arzt erklärte uns, dies sei vorläufig noch nötig, weil der Atemluft Medikamente beigefügt seien. Später würde er versuchen, die ständige Beatmung durch mehrere Inhalationen pro Tag zu ersetzen. Mein Vater versuchte zu reden. Was er sagte, war nicht zu verstehen. Abwechselnd hatten Sigrid und ich ein Ohr an seinem Mund. Er versuchte kurz und prägnant zu formulieren. Aber seine Sprache war ein Glucksen, ohne Atemluft. Besser war es, wenn wir nicht das Ohr zum Mund hielten, sondern versuchten, von seinen Lippen abzulesen. Dazu machte er Hand- und Kopfbewegungen. Wir mußten ihm ausführlich berichten, was geschehen war.
Wie er es erlebt hatte, konnte er uns erst eine Woche später erzählen. Sein ehemaliger Student, der offenbar irgendein Direktor war, hatte ihn genervt. Mein Vater hatte keine andere Möglichkeit gesehen, ihn loszuwerden, als nach Hause zu gehen. Als er vor dem Ausgang stand und den Mantel zuknöpfte, war plötzlich ein Bittermandelgeruch in der Luft. Es wurde ihm übel davon. Gerade wollte er in die frische Luft hinaustreten, da begann hinter ihm ein lautes Geschrei. Er wurde zur Tür hinausgestoßen. Schreiende und laufende Menschen waren seine letzte Wahrnehmung.
Nachdem er aus dem Koma erwacht war, schien es rasant mit ihm aufwärts zu gehen. Nach ein paar Tagen wurde in den Beatmungsschlauch ein T-Stück eingefügt und ein zweiter Schlauch angeschlossen. Der führte in einen Wasserbehälter, der an der Seite des Bettes angebracht wurde. Dort hing auch ein Urinsack. Wenn mein Vater ausatmete, gurgelte es im Wasserbehälter. Einmal sah ich zu, wie die Schwester durch den Beatmungsschlauch einen dünneren Schlauch einführte, durch den die Schleimrückstände der Lunge abgesaugt wurden. Das bereitete meinem Vater große Schmerzen. Sein Brustkorb bäumte sich auf, die Herzfrequenz wurde schneller. Er zappelte mit den Füßen. Die Schwester erklärte mir, das müsse alle vier Stunden gemacht werden. Sie saugte auch den Mund aus und desinfizierte ihn.
Später wurde der Beatmungsschlauch entfernt. Mein Vater mußte nun mehrmals täglich eine halbe Stunde lang inhalieren. Er tat es gewissenhaft. Er hatte den Wunsch, Bücher wiederzulesen, die er schon kannte. Wir brachten sie ihm. Sigrid wollte ihm vorlesen, aber das mochte er nicht. Er sei kein Kind, sagte er. Die Schwester befestigte am Bettgestell eine Vorrichtung mit einer Art Tablett, das sich schräg stellen und zur Bettmitte ziehen ließ. Darauf lag nun Kafkas Prozeß. Ich setzte meinem Vater die Hornbrille auf. Er tat sich schwer beim Umblättern. Auch hatte er Schwierigkeiten, die beste Entfernung des Buches zu seinen Augen zu finden. Einmal war ihm das Buch zu nahe, dann wieder viel zu weit weg. Wenn er endlich vertieft zu sein schien, stellte sich plötzlich die Seite auf. Ich besorgte Büroklammern, mit denen ich die jeweils aufgeschlagenen Seiten auf die darunter befindlichen heftete. Wenn mein Vater nickte, zog ich die Klammern heraus und blätterte um.
Sigrid mußte wieder zur Arbeit, deshalb wechselten wir uns ab. Ich hatte Frühdienst, Sigrid kam am Nachmittag und blieb bis neun oder zehn Uhr abends. Als mein Vater von der Intensivstation in ein Einzelzimmer der Internen Abteilung verlegt wurde, atmeten wir auf. Wir glaubten, er würde in absehbarer Zeit aus dem Krankenhaus entlassen werden. Sein Wunsch, auch einmal allein zu sein, stimmte uns zuversichtlich. Ich verließ vormittags für ein, zwei Stunden sein Zimmer, erledigte Einkäufe, ging spazieren oder setzte mich in ein Kaffeehaus. Sigrid tat dasselbe am Nachmittag.
Als ich einmal von einem dieser erzwungenen Spaziergänge zurückkam, sagte die Schwester zu mir:
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