Opferschuld
Trauma, eine Krise. Er hatte nie darüber gesprochen, und so stand es ihr frei, sich ihre eigene Erklärung auszudenken, ihre eigene Geschichte.
Es war Sonntag, und sonntags ging die Familie immer gemeinsam zum Abendmahlsgottesdienst in die Kirche auf der anderen Seite des Platzes. Nach Matthews Geburt war Emma ein paar Wochen zu Hause geblieben, doch einen Monat nach der Entbindung kam Robert bei ihnen vorbei. Es war am späten Vormittag, unter der Woche, sie war überrascht, ihn zu sehen.
«Solltest du nicht bei der Arbeit sein?», fragte sie.
«Ich bin unterwegs nach Spinney Fen und habe noch reichlich Zeit, einen Kaffee zu trinken und nach meinem kleinen Enkel zu schauen.»
Spinney Fen war das Frauengefängnis mit den hohen Betonmauern auf dem Kliff neben den großen Gastanks. Ein paar seiner Schützlinge saßen dort, rückfällig gewordene Frauen, um die er sich in der Gemeinde gekümmert hatte, und andere, die unter Auflagen entlassen werden sollten. Emma hasste es, an Spinney Fen vorbeizufahren. Oft war das Gefängnis ganz in den Nebel gehüllt, der vom Meer aufstieg, und es sah aus, als reichten die Betonmauern endlos hoch in die Wolken. Als sie nach Elvet gezogen waren, hatte sie anfangs Albträume gehabt, in denen er durch das schmale Metalltor hineinging und nie wieder herausgelassen wurde.
Sie machte ihm einen Kaffee und ließ ihn Matthew im Arm halten, doch die ganze Zeit über fragte sie sich, was er wirklich von ihr wollte. Als er ging, blieb er auf der Türschwelle kurz stehen.
«Sehen wir dich Sonntag wieder in der Kirche? Mach dir wegen dem Kleinen keine Sorgen. Wenn er schreit, kannst du jederzeit mit ihm rausgehen.»
Und natürlich war sie am darauffolgenden Sonntag da gewesen, denn seit Abigail Mantels Ermordung besaß sie nicht mehr den Willen, sich ihm zu widersetzen. Sich überhaupt jemandem zu widersetzen. Und er hatte immer noch eine Art an sich, die ihr Schuldgefühle machte. Ein Teil von ihr glaubte, dass die Geschichte vielleicht anders verlaufen wäre, hätte sie an jenem Sonntag vor zehn Jahren nicht gegen ihn aufbegehrt. Wäre sie nicht da gewesen, um die Leiche zu finden, wäre Abigail vielleicht nicht ums Leben gekommen.
Robert und Mary waren immer schon vor Emma und James in der Kirche. Robert war Gemeindevorsteher in St. Mary Magdalene, er trug, wenn es so weit war, selbst ein weißes Chorhemd und reichte den Wein aus dem großen silbernen Kelch. Emma war sich nicht ganz sicher, was er in der halben Stunde vor Beginn der Messe eigentlich tat. Er verschwand in der Sakristei. Vielleicht musste er dort noch etwas vorbereiten, vielleicht betete er. Mary ging immer in die kleine Küche des Gemeindesaals hinüber, um den Wasserkocher einzuschalten und die Kaffeetassen für hinterher aufzubauen. Dann stellte sie sich neben die Tür in der Kirche und teilte Gesangbücher aus. Solange Emma noch bei ihren Eltern wohnte, war von ihr erwartet worden, dass sie half.
James war kein bisschen religiös gewesen, als Emma ihn kennenlernte. Sie hatte das Thema bei ihrem ersten Rendezvous angesprochen, nur um sicherzugehen. Sogar jetzt, dachte sie, glaubte er nicht wirklich an Gott oder an irgendetwas, an das er zu glauben behauptete, wenn er das Glaubensbekenntnis sprach. Er war der nüchternste Mensch, der ihr je begegnet war. Wenn er vom Aberglauben der ausländischen Seeleute sprach, mit denen er bei der Arbeit zu tun hatte, lachte er nur. Er ging aus demselben Grundgern zur Kirche, aus dem er so gern im Captain’s House wohnte. Es brachte eine Tradition zum Ausdruck, eine gediegene Bürgerlichkeit. Er selbst hatte keine Familie mehr, auch das hatte ihn so anziehend gemacht. Oft beschlich Emma das Gefühl, dass er Robert und Mary näherstand als sie selbst, jedenfalls fühlte er sich in der Gesellschaft der beiden deutlich wohler.
Sie kamen verspätet zur Kirche. Die Story von Jeanies Selbstmord stand auf der Titelseite der Sonntagszeitung. Ihr ins Leere starrendes Gesicht hatte vom Fußabtreter zu Emma emporgeschaut und sie vor Schreck erstarren lassen. Dann erbrach sich Matthew, gerade als sie aus dem Haus wollten, auf seine Kleider, und schließlich hasteten sie über den Platz wie Kinder, die zu spät zur Schule kommen. Als ein plötzlicher Schauer einsetzte, hüllte Emma den Kleinen unter ihren Mantel, um ihn vor dem Regen zu schützen. Ihr war klar, dass sie dadurch wieder schwanger aussah. Ein paar Reporter, die vor der Kirche standen und rauchten, eilten zu ihren
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