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Opferschuld

Opferschuld

Titel: Opferschuld Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ann Cleeves
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unterm Dach aus sah man noch immer auf das Feld, auf dem Abigails Leiche gelegen hatte. Der Ausblick hatte sich nicht verändert. Das flache Land befand sich so nah an der Küste, dass es nicht weiter erschlossen werden durfte. Erst kürzlich hatte die Umweltbehörde vor Überflutungen gewarnt, womöglich sei sogar die ganze Halbinsel gefährdet und könne weggespült werden.
    Als sie nach Springhead House hinausfuhren, regnete eswie aus Kübeln, es war so duster, dass sie die Scheinwerfer anmachen mussten. Die Gräben standen voll Wasser, und in der Mitte der Fahrbahn hatte sich ein Bach gebildet. Sie saßen in James’ Volvo. Robert und Mary waren schon vorausgefahren.
    «Wer war denn bloß diese schreckliche Frau, die Dan dabeihatte?», fragte James. Er mochte Schönes um sich herum. Nach Emmas Ansicht war dies auch der Grund dafür, dass er ihre derzeitigen Launen ertrug.
    «Keine Ahnung. Ich habe sie noch nie gesehen.»
    «Vielleicht hat er geschäftlich mit ihr zu tun. Sie würde doch gut in einen Kunstgewerbeladen passen. In Harrogate vielleicht oder in Whitby.»
    «Ja, das stimmt.» Manchmal war sie von seinen scharfsinnigen Schlussfolgerungen geradezu überrascht – in solchen Momenten hatte sie ihn am liebsten. «Aber bestimmt in Whitby. Für Harrogate ist sie nicht chic genug.» Sie machte eine Pause. «Glaubst du, dass Dan deshalb in der Kirche war? Ihr zuliebe? In der Hoffnung, einen Verkauf abzuschließen? Das klingt aber schon ziemlich merkwürdig. Und gar nicht nach ihm. Er wirkt immer so geradeheraus. Ich kann mir nicht vorstellen, dass er irgendwem etwas vorspielt, um sein Ziel zu erreichen.»
    «Nein.» James drosselte den Wagen auf Schrittgeschwindigkeit. Ein Graben war übergelaufen, und ein torfiger Sturzbach rauschte quer über die Straße. «Ich glaube, er hat Jeanie Long gekannt. Gestern Abend kam er mir ganz schön betroffen vor, als er über ihren Selbstmord sprach. Manchmal ist die Kirche wohl der richtige Ort, selbst wenn einem der Glaube fehlt.»
    «Könnte sein, dass er Jeanie gekannt hat.» Emma war skeptisch, doch sie wollte den Gedanken nicht einfach abtun. Es war schon lange her, dass sie so miteinander gesprochenhatten, so ungezwungen. «Er ist zwar erst danach nach Elvet gezogen, aber sie war ja auch weg, zum Studieren. Als sie bei Keith Mantel einzog, hatte sie gerade erst ihren Abschluss gemacht. Dan könnte ihr begegnet sein, als sie noch studiert hat, aber ich habe keine Ahnung, wie und wo.»
    James ging nicht auf ihre Vermutungen ein. «Dan hat gemeint, der Selbstmord könnte dich aufregen.»
    «Ich habe sie doch gar nicht gekannt. In der Kirche habe ich darüber nachgedacht, ich habe sie überhaupt nur einmal gesehen.» Sie zögerte. «Ist dir klar, dass es fast auf den Tag zehn Jahre her ist, dass Abigail Mantel ums Leben kam? Eine schreckliche Übereinstimmung. Oder glaubst du, sie war sich dessen bewusst und hat es geplant? Eine dramatische Geste, um den Jahrestag zu begehen?»
    «Kann schon sein», sagte James nach einer Weile. «Ich war schon immer der Überzeugung, dass Selbstmord etwas sehr Selbstsüchtiges ist. Die Hinterbliebenen leiden doch am meisten.»
    So vertraut, wie sie miteinander redeten, war sie versucht, ihm von dem Mann zu erzählen, der seinen Abendmahlswein auf Robert gespuckt hatte, aber es kam ihr noch immer so ungeheuerlich vor, dass sie sich nicht dazu durchringen konnte. James bog in den holprigen Weg ein, der zwischen zwei riesigen Feldern schnurgerade aufs Haus zuführte, und sie saß schweigend neben ihm.
    Robert stand in der Küche vor dem Herd. Seine durchnässte Hose dampfte. Emma forschte nach einem Anzeichen dafür, dass der Vorfall beim Abendmahl ihn ebenfalls erschüttert hatte, doch er sagte mit einem feinen Lächeln: «Wir haben Miss Sanderson nach Hause gefahren. Ich habe ihr nur aus dem Wagen geholfen und war schon patschnass.»
    «Geh und zieh dich um, Liebling. Du wirst dich noch erkälten.» Mary war dabei, das Gemüse zuzubereiten, und er stand ihr im Weg. Trotz seiner verantwortlichen Stellung in der Kirche und bei der Arbeit behandelte sie ihn manchmal wie ein Kind.
    Robert schien sie nicht zu hören und trat nur vom Herd weg, um ihnen allen ein Glas Sherry einzuschenken. Emma stellte den Kleinen in seinem Sitz auf den Boden und deckte ihn gut zu. Mary hob den verkratzten gusseisernen Deckel vom Ofen, um die Herdplatte frei zu legen. Plötzlich wurde es wärmer in der Küche. Sie bückte sich, hievte eine Kasserolle aus dem

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