Opferschuld
unermüdlicher Überzeugungsversuche nie hatte konfirmieren lassen, und stellte sich in die Reihe. Vor ihr stand ein großer, gebeugt gehender Mann in einem glänzenden grauen Anzug, der ihm zu weit war. Er gehörte nicht zu den regelmäßigen Kirchgängern, doch sie meinte, ihn im Dorf schon gesehen zu haben. Er hatte allein in einer Bank gesessen, und niemand war auf ihn zugegangen, was ungewöhnlich war. Die Damen der Pfarrgemeinde rühmten sich doch, alle Fremden willkommen zu heißen.
Die Schlange bewegte sich langsam vorwärts. Der Mann kniete sich unbeholfen hin, und sie kniete sich neben ihn, wobei sie plötzlich den durchdringenden Geruch nach Mottenkugeln wahrnahm. Es war lange her, dass dieser Anzug das letzte Mal getragen worden war. Der Mann streckte seine zu einer Schale geformten Hände aus, um die Oblate entgegenzunehmen. Sie waren rissig und braun, wie aus Holz geschnitzt und sehr kräftig, obwohl er mindestens sechzig sein musste. Der Pfarrer fing seinen Blick auf und schenkte ihm ein kleines, anerkennendes Lächeln. Dann kam Robert mit dem Kelch, er wischte den Rand mit einem weißen Tuch sauber. Der Mann streckte automatisch die Hand aus, um den Kelch zu stützen, bevor er ihn an den Mund hob. Dann blickte er hoch, in Roberts Gesicht, und ein Schock des Wiedererkennens durchzuckte ihn. Als Robert weitertrat zu ihr, spuckte der Mann den Mundvoll Wein in seine Richtung. Das weiße Chorhemd war voller roter Spritzer von dem schweren, süßen Wein. Wie Blut, dachte Emma, das aus einer Wunde sickert. Die Frau an Emmas anderer Seite zog hörbar die Luft ein vor Sensationslust, die sie als Schrecken zu tarnen versuchte. Der Pfarrer hatte nichts gemerkt, und Robert tat, als sei nichts geschehen. Der Mann sprang auf, und anstatt sich wiederin seine Bank zu setzen, lief er den Mittelgang hinunter und verließ die Kirche.
Das Ganze war sehr schnell vor sich gegangen, und bestimmt hatte man es, verborgen von den stehenden Gläubigen, vom Hauptschiff aus nicht sehen können. Doch als der Mann an ihr vorbeiging, sprang Dan Greenwoods Begleiterin auf und folgte ihm hinaus.
Kapitel fünf
Nach der Kirche gingen sie zu Robert und Mary zum Mittagessen. Das gehörte unumstößlich dazu, wie die Lesung des Apostelbriefs und die Tageslosung. Emma sah es nicht ein, dass ihre Mutter, die nach dem Gottesdienst noch eine Stunde lang Kaffee ausschenkte und Geschirr abwusch, sich daheim gleich wieder auf ihre hausfraulichen Tätigkeiten stürzen sollte. Mary behauptete, es würde ihr Spaß machen, doch die Mary, an die sie sich aus York erinnerte, war alles andere als eine Hausfrau gewesen. Damals hatten sie eine Putzhilfe gehabt und waren oft auswärts essen gegangen. Emma konnte sich noch an ein nettes italienisches Restaurant erinnern, an lange Sonntagnachmittage mit Nudeln und Eis und daran, dass sie und ihre beschwipsten Eltern erst in der Dämmerung nach Hause gingen.
James brachte immer ein paar ganz ordentliche Flaschen Wein mit zum Essen. Emmas Ansicht nach brauchte er den Alkohol, um die Kälte abzuwehren und die Langeweile zu betäuben. Doch als sie einmal vorschlug, sich eine Entschuldigung auszudenken und nicht hinzugehen, wollte er davon nichts hören.
«Ich mag deine Eltern. Dein Vater ist ein interessanter und intelligenter Mensch, und deine Mutter ist ganz bezaubernd. Du kannst von Glück sagen, dass sie so hinter dir stehen.»
Nach dieser versteckten Zurechtweisung brachte sie das Thema nicht mehr zur Sprache.
Springhead House war kantig und grau und lag am Rande des Dorfes. Früher war es ein Hof gewesen, doch das Land war verkauft worden. Vor diesem Haus hatten sie damals gestanden, als sie aus York weggezogen waren. Robert hatte siegreich gestrahlt. Während seiner Ausbildung zum Sozialarbeiter hatten sie all ihre Ersparnisse aufgebraucht, und er hätte nie geglaubt, dass er etwas so Geräumiges finden würde, das auch noch bezahlbar war. Das Gutachten, in dem vor allem auf die hochsteigende Feuchtigkeit und die Holzwürmer in den Dachbalken hingewiesen wurde, schlug er in den Wind und behauptete steif und fest, dies sei der Ort, an den die Vorsehung die Familie geführt habe. Emma sagte sich, dass es so am besten sei. In einer Doppelhaushälfte in einer Neubausiedlung konnte sie ihn sich nicht vorstellen, sein Ego würde eine solche Enge nicht aushalten, mochte es auch ungerecht sein, das so zu sagen. Und ohne sein Wohlwollen ging es ja schließlich doch nicht.
Von Christophers altem Zimmer
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