Opferschuld
Schwierigkeiten. Ich bin nur hier, um auf Wiedersehen zu sagen.» Sie hob die Stimme. «Komm schon runter, Dan. Mit oder ohne Klamotten.»
Sie ging hinter Wendy ins Cottage. Dabei fragte sie sich, ob Wendy wohl Unterwäsche unter dem Bademantel trug. Einen schwarzen Slip mit einem Herz aus Pailletten. Von allen Orten in Elvet war dies das Haus, in dem Vera sich am wohlsten fühlte. Ihr gefiel das Durcheinander, der Blick übers Wasser. Danny kam die Treppe herunter und zog sich eben einen Pullover über den Kopf. «Wie lange geht das schon mit euch beiden?», fragte sie.
«Keine Ahnung. Ein paar Monate.» Wendy lächelte, siekonnte nichts dagegen tun. Sie setzte sich auf die Lehne des Stuhls, auf dem Dan Platz genommen hatte.
«Warum habt ihr es geheim gehalten?»
«Würden Sie das nicht tun? An einem Ort wie diesem?»
«Aye, wahrscheinlich schon.» Sie stand vor dem Fenster und blickte hinaus. «Es ist vorüber», sagte sie. «Sie haben jemanden verhaftet.»
«Wen?», fragte Danny.
«Mary Winter, die Mutter von dem Mädchen, das die Leiche gefunden hat.»
«Großer Gott!» Einen Augenblick lang saß er ganz still da und versuchte das zu begreifen. «Warum hat sie die beiden umgebracht?»
«Weiß der Himmel», sagte Vera. «Sie sagt, sie hätte nur das Beste für alle gewollt, aber ich bin mir nicht sicher, ob ich ihr glaube. Vielleicht einfach nur aus Eifersucht, weil die Kleine jung und niedlich und ihr Mann in sie vernarrt war. Darüber sollen sich die Anwälte streiten. Aber am Urteil wird das nichts ändern. Es ist vorüber.»
«Zu spät für Jeanie Long.»
«Aber nicht zu spät für dich. Es wird Zeit, dass du das alles hinter dir lässt.» Ein Tanker schob sich langsam den Fluss hinauf. «Ich habe das Dossier in deinem Schreibtisch gefunden.»
«Ich hatte mich schon gefragt, ob du es gesehen hast.»
«Eine Zeitlang habe ich überlegt, ob du sie wohl umgebracht hast.»
«Nein», sagte er. «Das war eine ganz andere Besessenheit. Ich dachte, eines Tages würde ich in der Lage sein, alles richtigzustellen. Den wahren Mörder zu finden. Nicht, dass ich dafür irgendwas unternommen hätte. Ich habe die Berichte nur ab und zu hervorgeholt, um Salz in die Wunden zu streuen.»
«Was wirst du jetzt damit machen?»
«Es verbrennen.»
«Viel Glück», sagte Vera, «für alles.»
«Danke.»
«Nun denn. Ich verschwinde.»
«Heimwärts?»
«Ja», sagte sie. «Zurück über den Tyne. In die Zivilisation.» Sie grinste breit. «Nichts für ungut.»
Sie fuhr durchs Dorf, um Ashworth vom Hotel abzuholen. Beim Captain’s House musste sie bremsen, um ein paar Kinder über die Straße zu lassen, und sie sah, dass Emma Bennett zu James nach Hause zurückgekehrt war. Sie saß hinter dem Schlafzimmerfenster und blickte über den Platz, offenkundig in Gedanken versunken. Wie die Heldin aus einem viktorianischen Melodram, dachte Vera.
Es wurde Zeit, dass sie endlich aufwachte.
Nachbemerkung der Autorin
«Opferschuld» spielt in einem fiktionalen Landstrich an der Ostküste Englands, östlich der Stadt Hull. Es gibt dort kein Dorf namens Elvet, und auch wenn die im Roman beschriebene Landspitze Spurn ähnelt, gibt es doch bedeutende Unterschiede. Zum Beispiel wohnen die Steuermänner des Lotsenboots nicht dort.
Die Lotsen sind aus ihrer alten Station in Hull weggezogen, doch meines Wissens wurde das Gebäude nicht zur Sanierung verkauft.
Ich möchte Ray und Val Eades herzlich für ihre unschätzbaren Hinweise zum Lotsenwesen auf dem Humber danken. Für eventuell noch vorhandene Fehler trage ich die Verantwortung.
Informationen zum Buch
Emma Bennett sieht sich mit dem schlimmsten Trauma ihrer Kindheit konfrontiert: Zehn Jahre zuvor entdeckte sie an einem frostigen Wintertag in einem Graben die Leiche ihrer besten Freundin. Eine Frau wurde verhaftet, doch nun taucht ein Zeuge auf, der ihr umstrittenes Alibi nach all den Jahren bestätigt.
Kommissarin Vera Stanhope würde den Mordfall gerne lösen, doch das gestaltet sich unerwartet schwierig: In dem Dörfchen Elvet findet sich kaum ein Einwohner, der kein Motiv gehabt hätte, die hübsche, verzogene und sehr gerissene Abigail zu töten.
Binnen kürzester Zeit ist die Atmosphäre vergiftet. Und Vera fragt sich: Haben die Dorfbewohner Angst vor dem Mörder oder vor ihrer eigenen, schuldbeladenen Vergangenheit?
«Mit Vera Stanhope hat die britische Autorin Ann Cleeves eine Kommissarin erfunden, die man mögen muss: ein wenig derb, übergewichtig,
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