Opferspiel: Thriller (German Edition)
befördert wurden, nur weil sie im richtigen Golfclub waren. Sie könnte wetten, dass er noch nie einem Verbrechensopfer seine Privatnummer gegeben hatte oder die ganze Nacht aufgeblieben war, um ihm die Hand zu halten und ihm zuzuhören, oder auch nur im Traum daran gedacht hätte, ihm ein Bett anzubieten. Vor allem hätte sie ihn gern gefragt, welche höheren Beamten im Justizministerium er kannte, denn sie war stolz darauf, diesen Leuten öfter mal den Tag zu verderben, indem sie dort anrief und ihnen ein neuerliches Versagen des Rechtssystems unter die Nase rieb. Aber Jo wusste, dass das in den Wind geredet wäre. Sie würde sich nur zum Gespött machen. Außerdem wäre ein schlic htes »Arschloch« so viel befriedigender gewesen.
Sie drehte sich zu dem halben Dutzend anderer Polizisten aus ihrem Trainingskurs für Verhandlungen mit Geiselnehmern um, die rund zehn Meter entfernt um einen Monitor herumstanden wie auf einem Filmset, und rief hinüber: »Dein Reinquatschen war total daneben, Foxy! Und ich will ja nichts über dein Mikro an dem Megafon sagen …«
»Kann ich jetzt gehen?« Amy zupfte sie am Ärmel.
Jo hockte sich lächelnd vor sie hin und winkte Amys Mutter herbei, die bei der ehrenamtlichen Bürgerpolizei, der Garda Reserve, war, ehe sie dem Mädchen die Sicherheitsausrüstung abnahm. »Natürlich, Süße, und du warst übrigens ganz toll.«
Sobald die beiden wieder vereint waren, ging Jo über den Balkon auf Foxy zu, wobei sie einen kurzen seitlichen Schlenker machte, um wieder in ihre Pumps mit den hohen Absätzen zu schlüpfen – unpassend, das wusste sie, aber ihr einsamer Protest gegen die institutionelle Frauenfeindlichkeit. Aufgrund ihres Rangs war sie dazu berechtigt, Zivilkleidung zu tragen, also zog sie meist auch Röcke an, obwohl die zugegebenermaßen ein bisschen hinderlich waren, wenn sie rennen musste.
Sie richtete sich auf und ließ den Blick über die Skyline schweifen. Die Stadt dehnte sich unter der höchsten Skulptur der Welt aus – The Spire, die Nadel –, als wäre sie dort festgesteckt. Während des Wirtschaftsbooms hatte der Vormarsch von Themenpubs und Restaurants mit Michelin-Sternen und Originalkunst an den Wänden die Grenze zwischen der Innenstadt und den Randbezirken weiter hinausgeschoben. Ihrer Erfahrung nach wurde diese Grenze jedoch nicht von einem Straßennamen mar kiert, sondern von der Wahl zwischen Heroin und Kokain. Koks gehörte unter den Prada tragenden Jungunternehmern und Kreativen zum gesellschaftlichen Umgang wie das Händeschütteln, solange das Geld in Strömen floss. Doch jetzt, da die Blase geplatzt war, eroberte H wieder neue Gebiete am Stadtrand.
Die anderen Kollegen zerstreuten sich nun rasch und ließen lediglich den zierlichen, silberhaarigen John Foxe in ihrem Blickfeld zurück. »Ich hatte ihn so weit«, sagte sie. »Er hatte angebissen.«
Foxy sah nicht überzeugt aus. Jo seufzte. Sie respektierte Foxe – er hatte sie unter seine Fittiche genommen, als sie noch ein Grünschnabel bei der Polizei war. Er war von der alten Schule, griesgrämig, aber mit hohen Prinzipien. Als der »Schriftgelehrte« des Reviers war er für die Einrichtung der Haupteinsatzzentralen verantwortlich, wobei sein stures Bestehen auf Anwendung der Theorie in der Praxis einen bei der Arbeit zum Wahnsinn treiben konnte. Jo hielt sich für das komplette Gegenteil von ihm. Indem sie manchmal Vorschrift Vorschrift sein ließ, überbrückte sie den Graben, der zwischen ihrem Gerechtigkeitsgefühl und dem Gesetz klaffte. Das war ihrer Karriere nicht gerade zuträglich, aber nichts brachte sie so sehr in Rage wie ein Justizsystem, das die Leidtragenden eines Verbrechens nicht zu Wort kommen ließ. Die Anwälte durften reden, der Richter durfte reden, der Angeklagte durfte reden, wenn er denn wollte. Aber von den Angehörigen eines Mordopfers wurde erwartet, dass sie still im Gerichtssaal saßen und sich anhörten, wie der Mensch, der ihnen genommen worden war, von der Verteidigung quasi noch einmal ermordet wurde. War es ein Fall, der Schlagzeilen machte, konnten sie sich glücklich schätzen, wenn sie überhaupt einen Sitzplatz bekamen, sonst mussten sie bei dem für sie so schmerzlichen und makabren Prozess auch noch stehen …
Foxy deutete mit einer müden Kopfbewegung auf eine abgelegene Ecke des langen Balkons, wo sie für sich sein konnten. Jo warf ein Nicorette-Dragee ein, das sie mühsam unter dem Plunder in ihrer Handtasche hervorgekramt hatte. Sie kaute mit
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