Opferzahl: Kriminalroman
der Zeit hat sich ein Loch geöffnet. Die Zeit vorher und die Zeit danach werden sehr verschieden sein.
Und doch kam es so plötzlich. Irgendwo in mir wusste ich ja, dass es geschehen würde, dass ich eine latente Bedrohung bin. Aber es ist tatsächlich eine Lehre fürs Leben: Wenn es eintrifft, ist man trotzdem immer unvorbereitet. Wenn es wirklich passiert.
Außerdem hatte ich von dieser Variante nichts ahnen können. Dass sie immer noch zu Überraschungen fähig sind. Der Bereich, der außerhalb des Gesetzes liegt, ist unendlich viel größer als der innerhalb der Gesetzesgrenzen. Der erscheint so klein und verletzlich. Ein kleiner zitternder Nerv, eingebettet in einen großen Körper von Krebszellen, die alles tun, um wachsen zu können.
Man agiert, als wäre man allein. Man hat keine Angst. Man kommt selbst zurecht. Man denkt, man sei eine Insel, von nichts als Meer umgeben. Man vergisst, dass man seine Nächsten Gefahren aussetzt.
Seine Lieben ...
Gott. Ich habe jahrelang nicht »Gott« gedacht, ich weiß. Aber jetzt musst du mir wirklich helfen. Ich habe nicht vor, im Staub zu kriechen, denn wenn du überhaupt irgendeinen Sinn hast, dann hilfst du mir. Das tust du. Wenn du je einem Menschen helfen musstest, dann jetzt. Sonst müsstest du endgültig abgeschafft werden.
Seltsam, dass ich schreibe.
Warum schreibe ich? Ich habe sehr lange nicht geschrieben. Wann war das letzte Mal?
In Zeiten existenzieller Krisen, vermute ich. Als ich ein neues Leben begann. Dann schreibt man vermutlich - wenn man niemanden zum Reden hat. Oder vielleicht eher, wenn das, was man zu sagen hat, in einem einfachen Gespräch keinen Platz findet oder nicht verstanden werden kann. Wenn man mehr ausdrücken will.
Wenn es einen fast zerreißt.
Ich kann mir vorstellen, dass dies die Schwierigkeit für einen Schriftsteller ist: weiterzuschreiben, wenn man jemanden zum Reden gefunden hat. Über alles. Warum soll man dann schreiben? Und dann der andere Grund, vermute ich - der, den ich gerade angeführt habe. Dass das Schreiben die Angst ableitet. Sie für einen Augenblick wegnimmt.
Jetzt ist sie wieder da. Mit ganzer Wucht. Jesus Christus. Was habe ich getan? Ich hätte es nicht tun müssen. Hätte es sein lassen können, hätte die Tage ihren Lauf nehmen lassen, die toten Winkel des Systems akzeptieren können. Ich hätte an die Nächsten und Lieben denken können. Hätte darauf verzichten können ... sie zu opfern ...
Jesus Christus.
Was habe ich getan?
Aber das wäre ein Fehler.
Ja, es wäre ein Fehler.
Es muss ein Fehler sein. Sollte irgendjemand im Universum in der Lage sein, den galoppierenden Wahnsinn zu stoppen, muss es einer sein wie ich. Indem er Stopp! sagt. Verfluchte Pest, dass ihr so selbstverständlich die Oberhand gewinnt. Einfach, indem ihr rücksichtsloser seid.
Verfluchte Pest, dass so die neue Weltordnung aussehen soll.
Nein, nicht ich habe etwas getan. Du warst es. Du Teufel.
Ich werde dich bekämpfen. Werde Widerstand leisten. Aber es muss unsichtbar sein. Ich muss ein phantastisches Doppelspiel spielen. Es wird meine ganze Kraft in Anspruch nehmen, und es darf nicht zu sehen sein. Kein anderer als du, mein Text, darf auch nur das Geringste ahnen. Ich werde im Stillen siegen, und wenn es das Letzte ist, was ich tue.
Wenn ich an das denke, was geschehen ist, an das, was uns droht, was über uns schwebt - und vor allem über dir, meine Arme -, dann erfasst mich die schlimmste Angst, die man sich überhaupt vorstellen kann. Ich glaube, es gibt nichts Schlimmeres. Sicher liegen viele höllische Dinge auf gleichem Niveau - es gibt eine ziemliche Ansammlung infernalischer Dinge in der Welt -, aber schlimmer kann nichts sein.
Jedenfalls hast du gut gezielt, du Teufel.
Aber auf die falsche Person.
Wenn du mit mir auf die Reise gehen willst, Gott, dann sei willkommen. Wenn du weiter den Anspruch erhebst, eine positive Kraft zu sein. Denn jetzt, verflucht, haben wir es mit dem Teufel persönlich zu tun. Kein anderer als du selbst entscheidet darüber, wie kraftlos du sein willst.
Ich gedenke jedenfalls nicht, kraftlos zu sein.
Ich gedenke zu zeigen, wie wahrer Widerstand aussieht.
*
»Es ist wie immer: Ich weiß nicht, ob du mich hören kannst. Aber ich tue, was ich immer tue: Ich stelle mir vor, du könntest es. Ich bin ziemlich sicher, dass du es kannst. Ich sage es jedes Mal, wenn ich hier bin, und ich werde es weiter sagen: Ich habe Zeichen wahrgenommen, ich weiß
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