Opferzeit: Thriller (German Edition)
weiter.
Nach ein paar Blocks kann ich Sirenen hören.
Ich biege ab, damit wir uns nicht begegnen.
In den ersten paar Minuten schlägt mein Herz so rasch, dass es sich anfühlt, als würde es gleich aus meiner Brust springen. Dann beginnt es sich zu beruhigen. Zehn Minuten später fühle ich mich wieder ziemlich gut. Gut genug, um auf die letzten paar Stunden zurückzublicken. Ich finde, es lief insgesamt ganz gut.
Nur Melissa vermisse ich bereits.
Ich brauche weitere zwanzig Minuten, um die Adresse zu finden, die sie mir gegeben hat. Es ist ein frei stehendes Haus, dessen Nachbarhäuser außer Sichtweite liegen. Es gibt eine lange Kiesauffahrt und rundherum ein Riesengrundstück. Es ist kein modernes Haus, aber es ist auch nicht sehr alt, und es wirkt gemütlich. Es wird in den nächsten paar Monaten mein Zuhause sein, bis ich mir über meine nächsten Schritte im Klaren bin.
Ich parke hinter dem Haus. Ich schließe die Hintertür auf. Ich kann ein Baby schreien hören. Mein Baby. Mein Herzschlag beschleunigt sich wieder etwas. Ich bewege mich auf die Schreie zu. Sie dringen aus einem Schlafzimmer. Ich öffne die Tür. Im dem Raum sitzt eine Frau. Sie scheint um die zwanzig zu sein. Ihr Haar ist zerzaust. Sie trägt kein Make-up. Ihre Kleider sehen aus, als wären sie seit Wochen nicht gewaschen worden. Eine Metallkette führt von ihrem Fußknöchel zu einem Heizungsrohr. Sie versucht, das Baby zu beruhigen und es zu füttern. Genau das hat Melissa mir beschrieben, nachdem sie mir erklärt hat, sie hätte keine andere Wahl, als mir das Versteck des Babys zu verraten. Die Frau blickt zu mir auf.
»O mein Gott, Gott sei Dank«, sagt sie und lässt das Milchfläschchen fallen, an dem das Baby keinerlei Interesse zeigt. Das Baby, Abigail, hat ein ausdrucksloses Gesicht und greift nach etwas, das nicht da ist. Es blickt zu mir herüber, aber da es weder lächelt noch wegblickt, weiß ich nicht, ob es mich sieht. Es ist süß. So weit Babys eben süß sein können. Sehr süß.
»Was geht hier vor sich?«, frage ich. »Wer sind Sie?«
»Diese verrückte Frau hat uns entführt«, sagt sie.
»Uns? Sie und das Baby?«
»Nein, mich und meine Schwester«, antwortet sie. »Das Baby gehört der verrückten Frau. Sie hat gesagt, wenn ihm irgendetwas zustößt, wird sie uns beide töten, daher habe ich ihr aufs Wort gehorcht. Bitte, bitte, Sie müssen uns helfen.«
»Ist Ihre Schwester älter oder jünger als Sie?«
»Ein bisschen älter. Warum? Was spielt das für eine Rolle?«
»Nur damit ich weiß, womit ich es hier zu tun habe.«
»Was meinen Sie damit?«, fragt sie.
»Damit meine ich, dass heute nicht Ihr Glückstag ist«, erkläre ich ihr. Dann schließe ich die Tür hinter mir, erzähle ihr von meinem Tag und erkläre ihr, dass sie und ihre Schwester meine Belohnung für die überstandenen Strapazen sind.
Epilog
Ich fahre den Wagen in die Einfahrt. Lehne mich zurück. Versuche mich zu entspannen.
Das Autoradio ist eingeschaltet. In den letzten drei Monaten seit meiner Flucht habe ich häufig die Nachrichten gehört. Es ist immer gut zu wissen, was in der Welt so vor sich geht. Am Anfang drehten sich die Nachrichten hauptsäch lich um mich. Einige Meldungen waren gut – etwa, dass Walt vor der Kirche getötet worden war. Einige waren herzzerreißend – etwa, dass Melissa in der Kirche getötet worden war. Ich vermisse sie wirklich sehr.
Ich drehe den Schlüssel im Zündschloss, schnappe mir meinen Aktenkoffer und steige aus dem Wagen. Ich widme mich kurz dem Schloss an der Eingangstür, dann trete ich ein.
Aus dem Flur kann ich das Geräusch der Dusche hören. Ich gehe in die Küche, öffne den Kühlschrank und schnappe mir das erste Bier seit fünfzehn Monaten. Ich nehme es mit ins Schlafzimmer und setze mich auf das Bett, ein paar Meter von der Badezimmertür entfernt, unter der Dampf hervorquillt. Dann lasse ich den Aktenkoffer aufschnappen, stelle ihn auf dem Bett ab und hole die Zeitung heraus. Die Titelseite dreht sich um Carl Schroder. Vor drei Monaten hat man ihm in den Kopf geschossen, aber er hat überlebt. Man hatte ihn in ein künstliches Koma versetzt. Die Zeitung macht ein großes Tamtam darum, dass er im Krankenhaus neben einem ehemaligen Kollegen lag, der sich ebenfalls im Koma befand. Man nennt die beiden die Koma-Cops. Die Medien haben die ganze Geschichte riesig aufgebauscht. Der andere Typ, ein gewisser Tate Sowieso, ist vor drei Wochen aufgewacht. Gestern ist auch Carl Schroder
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