Opferzeit: Thriller (German Edition)
versuche, mein Augenmerk auf den Boden zu richten und zu erfassen, was gerade passiert. Ich schaue zu Sally und den Männern rüber, von denen sie zurückgehalten wird. Sie hat Tränen in den Augen. Und plötzlich sind die letzten sechzig Sekunden wieder da. Ich war auf dem Heimweg. Ich war glücklich. Ich hatte das Wochenende mit Melissa verbracht. Dann ist Sally in meine Straße gebogen. Sie hat mir vorgeworfen, ich hätte sie belogen, und sie hat mich beschuldigt, der Schlächter von Christchurch zu sein, und schließlich ist die Polizei aufgetaucht, und ich habe … ich habe versucht, mich zu erschießen.
Vergeblich, denn Sally hat sich auf mich geworfen.
Das Dröhnen in meinen Ohren wird ein wenig leiser und vor meinen Augen ist immer noch alles rot. Vor mir steht ein Polizeiauto, das vor ein paar Minuten, als Sally in die Straße gebogen kam, noch nicht dastand. Ein Mann in Schwarz öffnet die Hecktür. Auf der Straße sind eine Menge Männer in Schwarz, alle mit Pistolen bewaffnet. Jemand sagt etwas von einem Krankenwagen, worauf irgendwer meint: Auf keinen Fall, und ein anderer: Scheiße, verpass ihm eine Kugel .
»Mann, der blutet uns den ganzen Sitz voll«, sagt jemand anders.
Ich senke den Blick, und überall auf dem Sitz und auf dem Boden ist genug von meinem Blut, um eine Putzkraft wie mich für ein paar Stunden auf Trab zu halten. Von dort reicht eine Spur bis zu meiner Pistole. Daneben steht Sally, inzwischen wird sie nicht mehr zurückgehalten. Ihr Gesicht und ihre Kleidung sind mit Blut bespritzt. Mit meinem Blut. Sie hat feuchte Augen, und das kotzt mich an, obwohl ich nicht weiß, warum. Während sie mich anstarrt, überlegt sie bestimmt, wie sie zu mir auf die Rückbank klettern und mich erneut platt walzen kann. Ihr blondes Haar, das vor ein paar Minuten noch zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden war, hängt jetzt lose herunter, und sie nimmt ein paar Strähnen und fängt an, darauf herumzukauen. Das ist wohl ein nervöser Tick von ihr, oder sie will auf diese Weise die beiden Polizisten neben sich verführen; sollten die beiden es mitbekommen, versuchen sie vielleicht, sich eine Kugel in den Kopf zu jagen so wie ich.
Ich blinzle, bis das Rot verschwindet, doch ein paar Sekunden später schiebt es sich erneut in mein Sichtfeld.
Zwei Männer steigen vorne in den Wagen. Einer von ihnen ist Schroder. Er setzt sich hinters Steuer. Er dreht sich nicht mal zu mir um. Der zweite Mann ist schwarz gekleidet. Wie der Tod. Wie die anderen Männer. Er trägt eine Pistole, die aussieht, als könnte man großen Schaden damit anrich ten. Er wirft mir einen Blick zu, als wollte er abschätzen, wie groß der Schaden tatsächlich wäre. Schroder lässt den Wagen an und schaltet die Sirene ein. Sie klingt lauter als jede andere Sirene, die ich bisher gehört habe, als sei das, was sie zu verkünden hat, wichtiger als sonst. Ich schaffe es nicht, den Sicherheitsgurt anzulegen. Schroder fährt los, und der Wagen macht einen so großen Satz nach vorne, dass ich fest in den Sitz gepresst werde. Ich drehe mich um und sehe, wie hinter uns ein weiterer Wagen, gefolgt von einem dunklen Transporter, auf die Straße biegt. Während ich beobachte, wie mein Haus immer kleiner wird, frage ich mich, was für ein Chaos ich wohl vorfinden werde, wenn ich heute Abend wieder zurückkehre.
»Ich bin unschuldig«, sage ich, aber es ist, als würde ich mit mir selber reden. Während ich spreche, läuft Blut in meinen Mund. Ich mag den Geschmack, und ich weiß, dass wir, führen wir jetzt zurück, Sally dabei erwischen würden, wie sie sich die Finger ableckt, denn sie mag den Geschmack ebenfalls. Arme Sally. In einem Anfall von Verwirrtheit hat sie diese Männer zu mir geführt, und was als das beste Wo chenende meines Lebens begann, scheint jetzt das schlimmste Wochenende meines Lebens zu werden. Wie lange werde ich brauchen, um ihnen die Gründe für meine Taten darzulegen und sie davon zu überzeugen, dass ich unschuldig bin? Wie lange wird es dauern, bis ich wieder bei Melissa sein kann?
Ich spucke das Blut aus.
»Mann, lass das, verdammt noch mal«, sagt der Mann auf dem Vordersitz.
Ich mache die Augen zu, doch das linke lässt sich nicht mehr richtig schließen. Es brennt, tut aber nicht weh. Noch nicht jedenfalls. Ich richte mich auf und betrachte mich im Rückspiegel. Mein Gesicht und mein Hals sind blutverschmiert. Und ein Augenlid hängt schlaff herunter. Als ich den Kopf schüttle, rutscht es wie ein Blatt über
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